Kleine Parteien im Aufwind?

[analysiert]: Oliver D’Antonio analysiert mögliche Hindernisse und Probleme, die den „großen Kleinen“ auf dem Weg in die Regierungen im Wege stehen könnten.

Die kleinen Parteien sind im Aufwind. Zuerst etablierte sich Die Linke mit wenigen Ausnahmen fest in der politischen Landschaft in Ost und West. Sodann fuhr die FDP vor allem im Jahr 2009 reihenweise Rekordergebnisse ein. Und schließlich dürfen sich die Grünen sogar Hoffnungen machen, den Ministerpräsidentenim Land Baden-Württemberg zu stellen, nachdem sie dort bei den jüngsten Landtagswahlen zweitstärkste Kraft wurden. Seit den späten 1980er Jahren ist zudem zu beobachten, dass auch andere Kleinparteien immer häufiger Achtungserfolge auf Landesebene erringen. Dies gilt für rechtskonservative und rechtsradikale Gruppen wie die Republikaner, die DVU oder die NPD ebenso wie für kleine bürgerliche oder populistisch agierende Formationen wie die STATT-Partei, die Schill-Partei PRO oder die so genannten Freien Wählergemeinschaften. Jüngst überraschte die Piratenpartei mit respektablen Ergebnissen in großstädtischen Milieus.

Der Aufschwung der kleinen Parteien geht einher mit der Erosion der Volksparteien. Denn je stärker feste Bindungen zwischen sozialen Wählergruppen und Parteiorganisationen zurückgehen, desto weniger lassen sich rund 90 Prozent der Urnengänger – wie noch zu Glanzzeiten der Volksparteien – an Union und SPD binden. Dadurch wächst zugleich die Chance anderer, also „kleiner“ Parteien, die entsprechenden Wähler zu mobilisieren.

Im Superwahljahr 2011 konzentriert sich die öffentliche und mediale Aufmerksamkeit ganz besonders auf die „großen Kleinen“, also der auf Bundes- wie Landesebene etablierten Parteien Bündnis90/Die Grünen, FDP und Die Linke. Deren relativ starke Beachtung stellt im Volksparteienstaat Deutschland etwas Neues dar. Denn bis vor wenigen Jahren waren es zumeist die polarisierten Duelle zwischen den Volksparteien und deren Spitzenkandidaten, die die Öffentlichkeit vor den Wahlgängen in ihren Bann zogen. Doch jüngst wurde immer deutlicher, wie wenig die CDU-SPD-TV-Duelle und der „Kampf der Köpfe“ noch taugen, wenn es am Ende eine Frage der Raffinesse und der Bündnisfähigkeit von Parteien und Politikern ist, ob, wie und mit wem Koalitionsregierungen geschmiedet werden können. Folglich rücken die gewachsenen kleinen Parteien besonders in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Grünen werden bisweilen gar als neue Volkspartei gefeiert.

Selbstverständlich bieten sich den etablierten kleinen Parteien durch die Schwäche der Volksparteien ungeahnte Chancen, einst unerreichbare Regierungsämter zu besetzen und die Politik in einer für sie neuartigen Qualität gestalten zu können. Doch das allmähliche Schwinden der Volksparteien birgt für die Kleinen nicht nur Chancen, sondern auch gewisse Risiken. Denn die großen Volksparteien erlaubten den kleineren Parteien in gewissem Maße Möglichkeiten zu deren Entfaltung, sie schirmten die kleineren Koalitionspartner oft vor dem Zorn des Wählers ab, erlaubten ihnen eine gewisse Wendigkeit und Profilschärfe. Den etablierten Kleinparteien gehen diese Mechanismen verloren. Sie stehen in ihrer gewachsenen Rolle folglich vor neuen Problemen und Herausforderungen.

Erstens: Der Erwartungsdruck gegenüber den kleinen Parteien steigt. Noch vor wenigen Jahren schien ein solides Wahlergebnis und der Einzug ins Parlament das wesentliche Ziel dieser Parteien zu sein. Sie zielten fraglos auch auf eine Regierungsbeteiligung ab, doch erreichten sie dies nicht, wurde der Schwarze Peter – meist erfolgreich – dem potentiellen Koalitionspartner unter den Volksparteien zugeschoben. Dieser Mechanismus funktioniert seit einigen Jahren aber immer schlechter. Beispielhaft dafür steht die Bundestagswahl 2009. Die Grünen mussten sich am Wahlabend vor allem der Frage von Journalisten stellen, woran es gelegen habe, dass sie als kleinste Fraktion und ohne Chance auf Regierungsbeteiligung in den Bundestag einziehen. Wohlgemerkt, es war das beste Resultat, dass die Grünen auf Bundesebene je erreicht hatten!

Zweitens: Die Kleinen verlieren ihre Rolle als „Königsmacher“. Sie selbst und nicht allein die Volksparteien werden zunehmend in bestimmende Rollen innerhalb der Koalitionsbildungsprozesse gedrängt. Es wird nicht mehr genügen, wie es einst die FDP handhabte, an bestimmten neuralgischen Punkten ein sozialliberales oder schwarz-gelbes Projekt auszurufen, welches nachfolgend für mehr als ein Jahrzehnt die Bündnispolitik der Partei von Kiel bis Stuttgart dominiert. Die Zeit der universellen Koalitionsprojekte, die jenseits von Schwarz-Gelb und Rot-Grün keine Alternativen kennt, scheint ebenso vorbei zu sein wie die der Leihstimmenkampagnen der Großen. Die kleinen Parteien verfügen über Machtchancen in ungekanntem Ausmaß; und dies auch in Regionen und Bundesländern, in denen dies zuvor undenkbar war. Doch sie stehen vor der schwierigen Aufgabe, strategische Koalitionsaussagen zu treffen, zu verweigern oder etwaige Bündnisversprechen unter dem Eindruck des Wahlausgangs zu revidieren.

Drittens: Den kleinen Parteien ist ein Rückzug in eine thematische Nische immer weniger möglich. So wie sich die FDP einst im Wirtschaftsressort profilierte und die Grünen in der Umweltpolitik Akzente setzten, werden es die gewachsenen Kleinen nicht mehr halten können. Man wird die Politik globaler bestimmen und für die Arbeit aller Ressorts verantwortlich zeichnen müssen, vor allem dann, wenn der Regierungschef der eigenen Partei entstammt. Es gelingt ihnen immer seltener, sich hinter den eigenen Lieblingsressorts zu verstecken und allein die dort erbrachten Leistungen hervorzuheben. Angenommen, eine fast gleichgewichtige grün-rote Koalition würde zu einer paritätischen Ressortbesetzung führen: Dann dürften die Grünen auch die ihnen thematisch fernstehenden Ministerien besetzen, für die der Partei die Expertise fehlt. Personal der Vorgängerregierung oder anderer Parteien müsste an einflussreichen ministeriellen Schaltstellen eingesetzt werden. Des Weiteren kann eine derartige Entwicklung einen Profilverlust der kleinen Parteien nach sich ziehen. Kleinere, spezialisierte Parteien könnten diese thematische Unschärfe nutzen und ihnen so einen Teil ihrer Wählerklientel abspenstig machen.

Viertens: Die elektorale Stärke steht im Widerspruch zur Mitgliederschwäche der kleinen Parteien. Dieser Umstand ergibt sich nicht aus dem Zerfall der Volksparteien, wirkt sich aber unter veränderter Erwartungshaltung gravierender aus. Denn Wahlerfolge hängen zwar nicht per se von der Größe der Mitgliedschaft einer Partei ab, jedoch sind gerade in den großen Volksparteien die Mitglieder eine wesentliche Ressource. Volksparteien rekrutieren aus ihrer Mitgliedschaft das politische Personal, die Manpower und die Kommunikatoren vor allem in Wahlkampfphasen. Und sie finanzieren sich zu einem nicht geringen Anteil aus Mitgliedsbeiträgen. Die anhaltenden Mitgliederverluste der großen Parteien führen jedoch keineswegs zu einem nennenswerten Mitgliederwachstum der kleinen Parteien. Folglich müssen sich die Kleinen gegen die Großen behaupten, sind jedoch weder personell noch zumeist finanziell so gut aufgestellt, dass sie mit den Volksparteien Wahlkampf auf Augenhöhe betreiben könnten. Auch was die lokale Repräsentanz angeht, ist Expansion schwer möglich. Oft müssen Büros geschlossen und Ortsvereine oder Stadtteilgruppen aufgelöst werden. In ländlichen Gegenden finden sich oft keine Kandidaten mehr für Gemeinde- oder Kreisräte. Als Mitgliederparteien werden Union und SPD wohl auch langfristig einen Vorsprung vor den Kleinparteien haben, während letztere sogar aus der lokalen Ebene verdrängt werden könnten. Sie drohen zu reinen Haupt- und Großstadtparteien zu werden.

Diese Thesen stellen gewiss keine Argumentation gegen den Erfolgstrend der kleinen Parteien dar. Denn für Parteien ist ja der Wahlerfolg das erklärte Hauptziel. Die Problemlagen, die hier skizziert wurden, werden die positiven Wirkungen des Aufschwungs kleiner Parteien in keiner Weise mindern oder gar egalisieren. Dennoch boten auch die Minderheitspositionen, welche die Kleinparteien gegenüber den Volksparteien einnahmen, gewisse Vorzüge und Vorteile, die mit ihrem Wachstum entfallen. Sich in der neuen Rolle zurechtzufinden, neue Mechanismen und Techniken als Regierungs- und Oppositionsparteien zu erlernen – dies werden die Hauptaufgaben der kleinen Parteien im Aufwind sein, vor allem, weil sie dann keine kleinen Parteien mehr sind.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Göttinger Institut für Demokratieforschung.