[analysiert]: Christin Leistner über den DDR-Bürgerrechtler Gerd Poppe
Zwanzig Jahre Friedliche Revolution, zwanzig Jahre Deutsche Einheit – so einige Jubiläen wurden in jüngster Vergangenheit in Deutschland gefeiert. Dieser Tage feiert ein Mann ein Jubiläum – seinen siebzigsten Geburtstag –, der oftmals als ein Vordenker der Friedlichen Revolution von 1989 bezeichnet wird: Gerd Poppe. „Gerd wer?“ werden einige von Ihnen jetzt fragen. Gerd Poppe – ein Mann, dessen Biographie einen genaueren Blick wert ist. Ein Mann, der für seine Überzeugungen kämpfte und somit zu einem der meist bespitzelten Menschen der DDR wurde, ein im Jargon der Staatssicherheit gesagt: „besonders bösartiger Feind der DDR“.
Gerd Poppe wird am 25. März 1941 in der Hansestadt Rostock als Sohn eines Ingenieurs und einer Sekretärin geboren. Die ersten vier Jahre seines Lebens sind geprägt von den Wirren des Zweiten Weltkrieges: Fliegeralarm, Luftschutzbunker und Zerstörung – all das erlebt auch Poppe. Seine Kindheit und Jugend verbringt er im Nachkriegs-Rostock, das vor allem nach der Bombardierung 1942 fast völlig zerstört ist. Dennoch nimmt alles Schöne, wie Literatur und Musik, eine wichtige Rolle in seinem Leben ein, bildet gewissermaßen einen Gegenpol zum vorherrschenden Mangel und der Not jener Tage und hilft vielleicht auch gerade somit darüber hinweg. Seine Mutter ist es, die ihn an Kunst und Kultur heranführt, die selbst unzählig viele Bücher besitzt, für ihr Leben gern liest und daneben eine große Leidenschaft für die Musik hegt. Gerd Poppe kommt dank seiner Mutter auch in den Genuss von Klassik-Konzerten und nimmt sogar Klavierunterricht.
Wen verwundert es, dass ein Mensch mit solchen Interessen sehr schnell an die Grenzen des Systems stößt und sich unweigerlich diese Fragen stellt: Wieso schreibt der Staat mir vor, was ich lesen darf, welche Musik ich hören darf? Hinzu kommt, dass Gerd Poppe ein intelligenter Mensch ist: Bereits mit fünf Jahren kann er lesen, überspringt in der Schule eine Klasse, ist fortan immer der Jüngste. Er ist ein sehr guter Schüler, der ganze Stolz seiner Mutter. Seine Schulzeit, überhaupt die Zeit bis Ende der fünfziger Jahre, ist in der DDR geprägt von Stalin und sowjetischen Helden. Doch die Helden von Gerd Poppe sind andere – darin unterscheidet er sich nicht nur von Mitschülern, sondern später auch von seinen Kommilitonen und nimmt somit eine gewisse Exotenrolle ein.
Obgleich er zum Zeitpunkt des Volksaufstandes vom 17.Juni 1953 bereits zwölf Jahre alt ist, hat er wenig Erinnerung daran. Nun ist es in der Tat so, dass die Ereignisse des 17. Juni in Rostock überschaubar sind – auf der Werft und an einigen Schulen wird gestreikt, doch größere Unruhen wie in Berlin und anderen Städten bleiben aus. Dennoch dürfte dieses Erlebnis nicht vollkommen spurlos an Gerd Poppe vorübergegangen sein. Ein Schlüsselereignis hingegen, das ihn zweifellos tiefgreifend prägt und das er sehr bewusst erlebt, ist der Aufstand in Ungarn 1956, der ebenfalls niedergeschlagen wird.
Obwohl die Wahl des Studienfachs nicht seinen Neigungen und Interessen entspricht, nimmt er 1959 ein Studium der Physik an der Hochschule in Rostock auf. Er folgt dabei dem Rat seines Vaters, der die Ansicht vertritt, dass Naturwissenschaften weniger politisch und ideologisch durchtränkt seien.
Wichtig für ihn in dieser Zeit sind vor allem die Reisen nach Westberlin, die er in den Sommerferien unternimmt – ein Kulturprogramm par excellence. So kennt er Westberlin allein wegen seiner Kinos, Theater, Buchhandlungen und kulturellen Einrichtungen. Er vergräbt sich in die Bücher in den Buchhandlungen und Antiquariaten, sieht soviele Filme wie möglich, kennt all die frühen Filme der Nouvelle Vague, geht auf Konzerte, besucht Theatervorstellungen – kurzum: Er nutzt das vielfältige Kulturangebot ausgiebig. Dem wird am 13. August 1961 ein jähes Ende gesetzt. Der Mauerbau – ein Ereignis, das natürlich auch Gerd Poppe nachhaltig prägt. Die Möglichkeit, wenigstens kurzzeitig eine kulturelle Vielfalt erleben zu dürfen, ist damit zunichte gemacht. Die politischen Folgen kann er zum damaligen Zeitpunkt, wie der Großteil der Bevölkerung, noch nicht abschätzen.
1964 schließt er sein Studium mit einem Diplom ab, findet im Anschluss daran eine Anstellung als Physiker im Halbleiterwerk Stahnsdorf, in der Nähe von Berlin, und bleibt dort schließlich bis 1976 beschäftigt. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968, mit dem so viele Menschen Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus verbinden, politisiert viele Menschen, auch Gerd Poppe. Die Bilder der sowjetischen Panzer, die durch Prag rollen, gehen um die Welt. Zusammen mit Freunden unterschreibt er in der tschechischen Botschaft ein Protestschreiben gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag – seine erste bewusste politische Handlung und eine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Systems. Die Staatssicherheit wird dadurch auf ihn aufmerksam und beobachtet ihn seitdem. Man kann 1968 durchaus als den Beginn seines oppositionellen Handelns ansehen.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kommt er in Kontakt mit Künstlern, Intellektuellen und Oppositionellen in Berlin. Sein Lebensmittelpunkt verlagert sich immer mehr von Stahnsdorf nach Berlin, sein Bekannten- und Freundeskreis erweitert sich in dieser Zeit enorm. Durch seine umfangreichen Kenntnisse der Film-, Musik- und Literaturgeschichte bekommt er leicht Zugang zu den kritischen Köpfen der Künstlerszene. Gerade diese Begegnungen und Freundschaften prägen auch seine politischen Überzeugungen. Er lernt Robert Havemann, Wolf Biermann, Stephan Hermlin, Christa Wolf und andere persönlich kennen und freundete sich mit vielen sogar an. Gerd Poppe ist somit nicht nur ein Vertreter der politischen Opposition, sondern auch der Kulturopposition und gehört außerdem der subkulturellen Szene Ostberlins an.
Darüber hinaus kann man ihn durchaus als Prototyp eines Ost-68ers angesehen. Im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten versucht er gemeinsam mit Freunden alternative Lebensformen zu erproben, ist als Initiator oder Teilnehmer in verschiedenen Diskussionskreisen sowie unabhängigen Veranstaltungen wie „eintopp“ oder „kramladen“ aktiv. Doch anders als die West-68er verbindet Poppe die Entwicklungen in Paris und Berlin immer mit denen in Osteuropa. Sein Interesse gilt schon länger den östlichen Nachbarn, v.a. der Kulturszene dort, die wesentlich freier und bunter ist als die der DDR. Davon kann er sich auch bei seinen Reisen in den siebziger Jahren nach Ungarn, Polen und in die Tschechoslowakei ein Bild machen, bei denen er oftmals auch kritische Intellektuelle und Künstler trifft. Er antizipiert somit auch früher als andere Oppositionelle die Entwicklungen in Ostmitteleuropa.
Das Jahr 1976 stellt einen Einschnitt nicht nur für Poppe dar: Wolf Biermann wird ausbürgert, unzählige kritische Köpfe und Künstler verlassen daraufhin die DDR gen Westen. Eine Welle des Protests durchzieht die DDR – auch Gerd Poppe bringt seinen Unmut über die Geschehnisse zum Ausdruck. Zwischen 1976 und 1979 reift Poppes oppositioneller Charakter. An eine Reformierbarkeit des Systems glaubt er nun nicht länger, vielmehr setzt er seine Hoffnungen darin, dass in der DDR ähnliche Strukturen entstehen wie in Polen mit der KOR oder der Charta 77 in der Tschechoslowakei. Dabei muss man beachten, dass sich in den achtziger Jahren der Handlungsspielraum, beispielsweise mit Aufkommen der Friedensbewegung, auch vergrößerte. So veranstaltet Poppe gemeinsam mit seiner Frau Ulrike zwischen 1980 und 1983 Wohnungslesungen kritischer Autoren. Sie eröffnen 1981 zusammen mit Freunden einen unabhängigen Kinderladen, um ihre Kinder fern der staatlichen Erziehungseinrichtungen zu erziehen, der jedoch bereits 1983 von der Staatssicherheit verboten wird.
Kurz: Mit großen Engagement wirkt er an der Arbeit der Opposition mit – trotz mehrmaliger kurzer Inhaftierungen, Ordnungsstrafen und diverser „Zersetzungsmaßnahmen“ sowie einem völligen Auslandsreiseverbot, das man 1980 über ihn verhängt. Gemeinsam mit seiner Frau, Wolfgang Templin, Bärbel Bohley und anderen gründet er 1985 die erste kirchenunabhängige Gruppe – die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) – eine der wichtigsten Oppositionsgruppen in der DDR. Außerdem ist er Mitherausgeber und Autor zahlreicher illegaler Publikationen, wie dem „Grenzfall“, „Spuren“ und „Ostkreuz“, beteiligt sich auch an Aufrufen und offenen Briefen, wie z. B. an dem „Offenen Brief Robert Havemanns an Breschnew“ 1981.
In den sich überschlagenden Ereignissen der Jahre 1989/1990 geht er als Sprecher der IFM an den Zentralen Runden Tisch, ist dort maßgeblich an der Ausarbeitung einer neuen Verfassung der DDR beteiligt und wird unter der Regierung Modrow Minister ohne Geschäftsbereich. Seine politische Biographie endet jedoch nicht mit dem Jahre 1990, auch im Anschluss daran ist er politisch sehr aktiv: Die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur ist ihm dabei ebenso ein Anliegen wie der Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte weltweit.
Ein wahrlich bewegtes Leben, auf das er zu seinem heutigen siebzigsten Geburtstag mit Stolz zurückblicken kann. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwünsch!
Christin Leistner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie arbeitet derzeit an einer Diplomarbeit mit dem Titel: „Im Gleichschritt, Marsch!“ Ein Mann außer der Reihe: Gerd Poppe.