An diesem Freitag findet die Neuwahl des CDU-Vorsitzes statt. Viele in der Partei selbst versprechen sich davon einen Neuanfang „nach Merkel“, ein schärferes inhaltliches Profil, klarere Kommunikation, bessere Abgrenzung zum politischen Gegner und vor allem eine stärkere Repräsentation der Mitgliedschaft innerhalb der Partei. Doch all diese Erwartungen könnten, unabhängig davon, wer den Vorsitz übernimmt, schon bald einen Dämpfer erfahren, denn die CDU steht als Organisation und im politischen Wettbewerb vor strukturellen Problemen.
In den vergangenen Jahren wurden immer häufiger Rufe aus der CDU laut, die Partei müsse ihren „Markenkern“ schärfen. Ein Herumlavieren, oder gar Regieren nach Umfragen, höhle das programmatische Profil der Partei aus. Die CDU war aber schon immer eine Verbindung – Union – aus verschiedenen Strömungen[1]; den Liberalen, den Konservativen und den sozialpolitisch orientierten. Das Austarieren verschiedener inhaltlicher Forderungen gehörte zum eigentlichen „Markenkern“ der CDU. Dies wurde immer unter Berücksichtigung der sich wandelnden Gesellschaft vollzogen. Gegenwärtig zeigt sich, dass sich Wirtschaftsliberale, Sozialliberale, neubürgerliche Ökolibertäre, christlich orientierte und Nationalkonservative immer schwerer in einer einzigen Partei fassen lassen. Wie schwer dieses Vermitteln geworden ist, zeigt sich darin, dass die Union bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern mit unterschiedlichen Wahlkampfansprachen an die AfD und die Grünen gleichzeitig Wählerstimmen verloren hat.
Durch eine personelle Veränderung erhoffen sich viele in der Partei auch einen kommunikativen „Aufbruch“. Man brauche weniger einen moderierenden Führungsstil in der Partei, als eine „klare Kante“ und Konfliktbereitschaft. Die durch Merkel personifizierten zähen Prozesse der Kompromissbildung sollen überwunden werden. Dabei ist diese Art der Entscheidungsfindung gerade Merkmal einer Volkspartei. Friedrich Merz ist in dieser Erwartungshaltung Projektionsfläche all derer, die auf die Vergangenheit blickend am liebsten eine Revision verschiedener inhaltlicher Entscheidungen der CDU-Führung anstreben. Niemand weiß jedoch, wie Merz in den Fragen der Eurorettung, der Flüchtlingspolitik, der Familienpolitik, oder den bei Konservativen Phantomschmerz verursachenden Themen der Atompolitik, der Wehrpflicht, oder der Abkehr von der Hauptschule, als Kanzler wirklich entschieden hätte – unter den Zwängen der Koalitionsdisziplin, wahltaktischer Überlegungen und internationaler Verantwortung. Merz ist bisher vor allem als starker Redner aus Oppositionszeiten in Erinnerung, was spannendere Bundestagswahlkämpfe verheißen würde. Die Kanzlerrolle aber verlangt gerade nicht nach Polarisierung.
Von Merz erhoffen sich seine Unterstützer offensichtlich einen Schritt in Richtung des Images alter CDU-Parteipolitiker: Merz ist männlich, westdeutsch, katholisch, Familienvater, verheiratet. Damit ist er ein maximaler Kontrast zu Merkel; sie ist weiblich, ostdeutsch, protestantisch, geschieden, kinderlos. In seiner Partei galt Merz als Fraktionsvorsitzender jedoch nicht als besonders gut verankert, war somit nicht der bis in die parteiliche Tiefebene vernetzte Politikertypus, wie er gerade mit Helmut Kohl verbunden wird. Zudem polarisierte er im Führungsstil gegenüber seiner eigenen Fraktion und im Auftreten nach außen, als er in den Debatten um die Reform des Sozialstaats wirtschaftsliberale Positionen mit scharfkantiger Verve zu vertreten wusste.[2] Sein Konkurrent Spahn steht für das Modell des Turbo-Parteikarrieristen, der in jungen Jahren bereits in die Spitzenämter der Partei gelangte. Der Altersdurchschnitt der Mitgliedschaft, und mithin der Delegierten der CDU auf dem Parteitag, liegt jedoch weitaus höher als das Alter Spahns. Annegret Kramp-Karrenbauer hingegen versucht, und dies besonders im Gegensatz zu Merz, die in der CDU immer auch stark vorhandene Provinzialität, im Sinne einer kleinbürgerlichen und auf den ländlichen Raum bezogenen Mentalität, zu repräsentieren. Diese Einstellung gehörte seit jeher zum Selbstverständnis der CDU, wie es Helmut Kohl noch überzeugend zu repräsentieren vermochte. Merkel setzte zwar inhaltlich eine gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU durch, versuchte aber auch kommunikativ an diese Basismentalität der CDU anzuknüpfen, etwa mit Hinweisen, sie koche gern Kartoffelsuppe, oder der Forderung, man solle Weihnachten einmal wieder Blockflöte spielen. Dies rief im linksliberalen urbanen Lager Spott hervor, integrierte in ländlichen Regionen christdemokratischer Prägung, eben gerade wegen dieser Ablehnung der „anderen Seite“, jedoch stark. Auf ähnliche Effekte setzt auch Kramp-Karrenbauer mit Verweisen auf ihre lange Prägung als Landespolitikerin, und ihre wiederholte Positionierung gegen die „Ehe für alle“, die doppelte Staatsbürgerschaft oder für ein verpflichtendes soziales Jahr für junge Menschen. Nicht nur dadurch wirkt Kramp-Karrenbauer gesellschaftspolitisch weitaus konservativer als es ihre oft unterstellte Merkel-Nähe vermuten lässt.
Auf einer weiteren Ebene versprechen sich viele Mitglieder nicht nur eine Schärfung des inhaltlichen Profils nach innen, sondern auch eine bessere programmatische Abgrenzung nach außen gegenüber der politischen Konkurrenz, was die CDU im politischen Wettbewerb besser wahrnehmbar machen soll. So soll die CDU nicht mehr überwiegend mit dem Ziel Wahlen gewinnen, dass gegen sie keine Regierung mehr gebildet werden könne, sondern aus einem eigenen, Wähler mobilisierenden, Angebot heraus. Die parteilichen Wettbewerber wurden jedoch in den letzten Jahren mehr, wobei sich gleichzeitig der Kreis der aus CDU-Sicht Koalitionsfähigen wegen der Linken und der AfD verkleinerte, und so die praktikablen Koalitionsalternativen weniger werden. Auf alte Partner ist nicht mehr per se Verlass, wie die Jamaika-Sondierungen zeigten, und auf Länderebene zeigen sich bereits neue Koalitionsvarianten. Das alte Lagerdenken hat zudem an Prägekraft verloren. Die Verschärfung des Koalitionswettbewerbs erfordert somit eigentlich eine stärkere Flexibilität der Partei: Kehrseite dieser Notwendigkeit ist wiederum der daraus folgende innerparteiliche Vorwurf einer „Beliebigkeit“ der CDU. Zwar kann scharfe Rhetorik im Wahlkampf nach außen, und Kompromissfähigkeit in den Koalitionsrunden nach innen angestrebt werden, jedoch fiele diese Unausgewogenheit auch der eigenen Mitgliedschaft zunehmend auf. Der Konflikt um den Umgang mit der AfD – also ob die CDU Forderungen der AfD übernehmen solle, um so ehemalige Wähler zurückzuholen, oder ob die CDU der AfD kommunikativ besser keine Beachtung schenken und die von der AfD angesprochenen Probleme mit CDU-Antworten adressieren solle – bleibt bisher bei jedem der drei Bewerber ungelöst im Raum stehen.
Gerade auch eine stärkere Beteiligung der Basis erwarten viele Christdemokraten von dieser Wahl. Zwar galt die CDU oft als „Kanzler(innen)wahlverein“, übte also ein defensives Partizipationsverständnis aus, doch in letzter Zeit häuften sich die Beschwerden an diesem Führungsstil, nicht zuletzt fanden sie Ausdruck in der Abwahl des bisherigen Fraktionsvorsitzenden Kauder. Allerdings gehört es zur Eigenart von Parteien, insbesondere der Großen, dass die Partei als Ganzes auf ihren verschiedenen Ebenen, diese in sich verzweigte Organisation, reserviert auf Wandlungsbemühungen reagiert, weil es schwer ist, „eingefahrene Routinen, Vorstellungen, Mentalitäten und Identitäten aufzubrechen“.[3] Verschiedene Zielvorstellungen unterschiedlicher innerparteilicher Gruppen laufen durcheinander, manchen mangelt es an Strategiefähigkeit, andere finden eher in der medialen Wahrnehmung, denn als in den parteiinternen Lebenswelten Zuspruch; oft wird auch die grundlegende Debatte um ein neues Zukunftsbild zulasten der taktischen Ausrichtung im Tagesgeschäft oder mit Blick auf die nächste Wahl, vernachlässigt. Daher bleibt es in der Praxis oftmals einem „strategischen Zentrum“[4] an der Spitze der Partei vorbehalten, diese Steuerungsfunktion zu übernehmen und im Regierungsalltag als Partei handlungsfähig zu bleiben, ohne die langwierigen, gelegentlich auch ziellos endenden, parteilichen Prozesse in Gang zu setzen. Dieses Vorgehen jedoch entspricht nicht den gelegentlich aufflackernden Partizipationswünschen der Basis. Mit diesen Strukturbedingungen einerseits und den Erwartungen andererseits wird jeder der möglichen Kandidaten für den Vorsitz umgehen müssen.
In den oder die neue Vorsitzende der CDU wird also vieles hineinprojiziert, was dieser, unabhängig von seiner Person, sehr schwer erfüllen kann. Die Gründe für die aufkommende Kritik aus der CDU selbst liegen somit viel tiefer und lassen sich durch eine Personalisierung der Probleme nicht lösen.
Michael Freckmann ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Vgl. Walter, Franz: Zeiten des Umbruchs, Stuttgart, 2018.
[2] Vgl. Walter, Franz / Werwarth, Christian / D’Antonio, Oliver: Die CDU, Baden-Baden, 2011, S. 113.
[3] Wiesendahl, Elmar: Der Organisationswandel politischer Parteien. Organisations- und wandlungstheoretische Grundlagen, in: Jun, Uwe; Höhne, Benjamin (Hg.): Parteien als fragmentierte Organisationen, Opladen, 2010, S. 35-64.
[4] Vgl. Raschke, Joachim: Politische Strategie, Wiesbaden, 2007.