[kommentiert]: Franz Walter über den Erfolg der politischen Pragmatiker
In der SPD obwaltet wieder das Flair des „Pragmatismus“. Der Gewinner von Hamburg: Olaf Scholz, ein Pragmatiker. Der Spitzenkandidat der Partei in Schleswig-Hostein: Torsten Albig, ein Pragmatiker. „Siegesserie der SPD-Pragmatiker“, schlagzeilte am 28. Februar die Financial Times Deutschland. Und auch Thomas Oppermann, der machtbewusste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, kündigte an: 2013 werde ein Pragmatiker die Kanzlerkandidatur der SPD übernehmen. Ulf Poschardt, Edelfeder bei der Welt, kommentierte all dies als den Weg zurück zur Mitte und zum Erfolg, während zuvor „linke Populisten und hyperventilierende Sozialromantiker die Partei geprägt“ und Wähler abgeschreckt hätten.
Nun lagen die schlimmsten elektoralen Einbrüche der SPD, lag ihr Verlust der Zentrumsrolle der parlamentarischen Mehrheitsbildung in einer Zeit, als durchweg die Pragmatiker Schröder, Scholz, Müntefering, Steinmeier, auch Steinbrück, Clement, Eichel den Ton und Takt vorgaben. Der Typus des „hyperventilierenden Sozialromantikers“ war der SPD längst abhanden gekommen. Wer sollte das gewesen sein, der die SPD in der letzten Dekade nach dieser Art angeführt hätte? Kurt Beck, SPD-Chef in der „Zeit des Linksrutsches auf dem Hamburger Parteitag“ (Poschardt) dürfte wohl nicht damit gemeint sein.
Nein, Romantik beherrschte nicht den Geist der letzten zwei bis drei Jahrzehnte. Sachzwang, Alternativlosigkeit, Pragmatismus, Realpolitik – das waren magischen Formeln einer vermeintlich illusionslosen „Wirklichkeitspolitik“. Nun hat Politik die empirischen Gegebenheiten unzweifelhaft scharf in den Blick zu nehmen. Natürlich. Aber eben nicht allein. Die Beschränkung einzig auf das, was ist, hat der Politik ungeheuer an Spannung, Aura und Faszinationskraft genommen. Hinterlassen wurde eine trostarme Leere, in die gerade Menschen mit Fantasie – Fantasie! – und Lust nicht (mehr) hinein wollen. Politik aber hat jahrtausendlang gerade diesen Typus bewegt und beschäftigt. Wenn jedoch die „überzeugungslose“ Leere dominiert, dann setzt sich schnell der Eindruck fest, das Politik nicht wirklich etwas will.
Zum Pragmatismus der letzten 25 Jahre gehörte die Verachtung von Programm, Ethos, Entwurf, Idee, Imagination, Bildern. Der Pragmatismus will nicht erzählen und erklären, sondern handeln und machen. Dass jedes Tun auch motiviert wird durch Kriterien der Entscheidung, durch Präferenzen und Prioritäten, die in Deutungen und Wertungen des gesellschaftlich-politischen Umfelds begründet liegen, hat er sich nicht eingestanden, zumindest nicht als offenen Diskurs zulassen wollen. Dennoch definierte und legitimierte sich der Pragmatismus der letzten Jahre als pure politische Exekution des Sachzwangs, der alternativlosen Notwendigkeiten.
Raum für oder gar Bedarf an Programmatikern, ja selbst an souveränen Ideenlieferanten gab es infolgedessen nicht mehr. Wozu auch, da doch die Strukturen die politischen Schritte leiteten, ja fixierten. Stattdessen stieg in der Politik einzig die Nachfrage nach den Administratoren, Geschäftsführern und Maschinisten des Betriebs. Nie zuvor in der Parlamentsgeschichte fand dieser Typus bessere Bedingungen vor als in den Jahren „au fin de l’age idéologique“. Eine Debatte über die Funktion und Möglichkeiten qualitativer Staatsinterventionen hat seit rund dreißig Jahren in der Republik nicht mehr stattgefunden, so dass im Moment der Bankenkrise alles auf ein klotzendes, aber ziellos etatistisches „muddling through“ hinauslief.
In den Jahrzehnten des Pragmatismus leerten sich die Biotope der Inspiration, die in früheren Jahrzehnten so überreichlich gefüllt waren. Das hatte der Politik durchaus auch vernünftigerweise Teile vorangegangener Hybris, Absolutheitsansprüche und Totalitätsversuchungen genommen. Aber die neue Ideologie der vermeintlichen Ideologielosigkeit entzog der Politik und Gesellschaft auch die Offenheit der Wege, die Nationen einschlagen können, die Berechtigung des Konflikts darüber, die Organisation von gegensätzlichen Interessen und die oppositionelle Negierung dessen, was als Oktroy „unbestreitbarer Realitäten“ ausgegeben wird.
So musste es wohl kommen: Politik ohne Erzählung banalisiert sich, verliert an Spannung und Bedeutung. Oder (sehr) frei nach Adorno: Politik ohne jegliche Spiritualität wird zum Klempnerhandwerk der Staatsverwalter. Das ist dann „Realpolitik“. Aber es ist nicht „Realismus“, zumindest nicht im Sinne desjenigen, auf den sich „Realpolitiker“ gern und viel berufen: Max Weber. Golo Mann, kein Freund Adornos, hat die Webersche Gedankenführung vor fast fünfzig Jahren pointiert zusammengefasst:
„Max Weber unterschied zwischen Realismus und ‚Realpolitik’. Der Realist setzt sich frei gewählte Ziele, die im Reich der Möglichkeit liegen, mitunter sogar jenseits seiner Grenzen, denn es mag vorkommen, dass man nach dem Unmöglichen greifen muss, um Geringeres, Wünschbares zu gewinnen. Immer ist der politische Realismus zwischen dem eigenen Willen und der ihm entgegenstehenden Wirklichkeit, die man als das erkennt, was sie ist – die ‚geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein’, wie er kurz vor dem Ende formulierte. Dagegen bedeutete ihm das Modewort ‚Realpolitik’; die Annahme jeder Entwicklungstendenz, weil sie einmal da war, ohne den Willen, sie so oder so zugestalten; die prahlerische oder zynische Anpassung an jede Wirklichkeit ohne im Ernst verfolgt eigene Ziele, die Anbetung des Erfolges, das nervöse Haschen nach Erfolg oder Scheinerfolg, wo immer er sich bot.“
(Golo Mann: Zeiten und Figuren, Frankfurt a.M. 1979, S. 175)
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.