Ernüchternde Bilanz

[analysiert]: Oliver D’Antonio zieht Bilanz anlässlich des 10. Geburtstages der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.

Es war wohl die größte Gewerkschaftsparty, die Deutschland je gesehen hat. Vor zehn Jahren, vom 19. bis 21. März 2001, fand in Berlin der Gründungskongress der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, kurz Verdi, statt. Fünf Einzelverbände, die DGB-Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), die Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV), die IG Medien und die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) sowie die vormals nicht zum DGB gehörige Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG), hatten die Fusion in den Tagen zuvor beschlossen. Man startete selbstbewusst ins neue Jahrzehnt, im festen Glauben, die erste Supergewerkschaft im Dienstleistungssektor, nun die größte Gewerkschaft der Welt, könne diesen aufmischen. Auch war man stolz, die Abspaltung der Angestellten in der DAG nach fast fünf Jahrzehnten überwunden zu haben. Zwei strategische Ziele verfolgte die neue Multibranchengewerkschaft: Zum einen wollte sie den tarifpolitisch schwierigen tertiären Sektor integrieren, um den Arbeitnehmern endlich auf Augenhöhe zu begegnen. Zum anderen wollte sie als schlagkräftige Organisation dem Gewerkschaftslager wieder zu politischem Einfluss verhelfen.

Dass die Euphorie großer Anfänge gemeinhin rasch zu verfliegen droht, ist ein bekanntes Phänomen. Auch Verdi war davor nicht gefeit. Zum zehnjährigen Jubiläum muss eingestanden werden, dass keines der zentralen strategischen Ziele zufriedenstellend verwirklicht wurde. In der Frage der organisations- und tarifpolitischen Ziele erwies sich die große Bündelung aller Kräfte im Dienstleistungssektor schon vor der Fusion als problematisch.  Das langwierige Ringen der Gewerkschaften seit 1997 resultierte nicht zuletzt aus der Furcht, die DAG und ÖTV als größte Teilorganisationen würden Verdi dominieren, die Interessen kleinerer Verbände oder spezialisierter Berufsgruppen könnten untergehen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie die Eisenbahnergewerkschaft GdED beendeten die Teilnahme am Fusionsprozess bereits 1998. Statt einer integrierten Dienstleistungsgewerkschaft standen sich der Riese Verdi und die GEW öfter auf den Füßen. Denn trotz tarifpolitischer Kooperation besteht ja das Problem, dass man um dieselbe Mitgliederklientel buhlt.

Des Weiteren entdeckten seit Beginn der 2000er Jahre auch kleinere Berufsgewerkschaften wie die der Lokführer, der Piloten oder der Fluglotsen ihre Möglichkeiten, eigenständig erfolgreiche Tarifkämpfe durchzuführen. Diese bisweilen aggressive Konkurrenzstrategie verstärkte die Fliehkräfte im Dienstleistungssektor zusätzlich. Die Komplexität und Heterogenität des neuen Gewerkschaftsriesen erwies sich als schwere Bürde, welche die Kraft der Sammlung wieder aufzufressen drohte. Verdi wurde für Arbeitnehmer nicht attraktiver, im Gegenteil, es kam zu einem Exodus der Kolleginnen und Kollegen: Mehr als 700.000 Mitglieder verlor Verdi in den ersten zehn Jahren. Allein 2010 verlor die Dienstleistungsgewerkschaft mehr als 40.000 Mitglieder und dürfte in den nächsten Jahren unter die Zwei-Millionen-Marke fallen.

Verdis Probleme resultieren vor allem aus der Struktur des dritten Sektors selbst: Während sich die deutsche Industrie weit stärker durch eine robuste wirtschaftliche Stärke und eine zumindest halbwegs vergleichbare Sozialstruktur der meisten Beschäftigten – insbesondere der Facharbeiter – auszeichnet, ist das Objekt der Integrationsbemühungen im Dienstleistungssektor ausgesprochen heterogen: Hochqualifizierte Solisten und Kreativarbeiter im Medien- und IT-Bereich stehen den Experten an den Schaltstellen des komplexen Verkehrsnetzes gegenüber. Hinzu kommen, unter anderem, die Heerscharen von Angestellten im öffentlichen Dienst oder im Pflegebereich und die zahllosen geringer qualifizierten Beschäftigten und Zeitarbeiter, die beispielsweise im Einzelhandel oder gar in Callcentern ihr tägliches Brot verdienen. Strukturelle Arbeitslosigkeit und die Tertiarisierung der Wirtschaft lassen zudem das Gewerkschaften begünstigende Normalarbeitsverhältnis allmählich verschwinden. Planbare, dauerhafte Beschäftigung in einem Tätigkeitsbereich und in einem Betrieb gibt es im tertiären Sektor kaum noch. Weder die hohen Potenziale der wechselhaften Branche für Informationstechnologien noch die prekären Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor lassen Gewerkschaften als vertrauensvollen Agenten der eigenen Interessen erscheinen. Weil diesen vielfach der tarifpolitische Zugriff fehlt oder weil Unwissenheit über die Möglichkeiten oder Furcht vor Sanktionen durch den Arbeitgeber eine Gewerkschaftsmitgliedschaft oder Betriebsratsgründung ausschließen, mühen sich die Beschäftigten lieber allein durchs unstete Berufsleben. Zeitweiliger Trittbrettfahrer der Tarifpolitik in einem Betrieb zu sein, liegt folglich näher als eine formale Gewerkschaftsmitgliedschaft.

Freilich konnte Verdi auch tarifpolitische Erfolge verbuchen, vor allem dort, wo ihre größte Vorgängerorganisation, die ÖTV, eine stabile Hausmacht besaß, im öffentlichen Dienst. Diese blieben jedoch rar. Das stolzeste Ergebnis der letzten Jahre, die Durchsetzung eines Post-Mindestlohns, endete sogar mit einer Totalpleite: Das Bundesverwaltungsgericht kassierte im Herbst 2010 das Mindestlohngesetz, da es die Rechte der Postkonkurrenten verletzt sah. Zudem tut Verdi sich bisweilen sogar damit äußerst schwer, erfolgreiche Tarifabschlüsse gegenüber kleineren Erwerbsgruppen in den eigenen Reihen zu rechtfertigen. Dies zeigte sich insbesondere im Sommer 2009 bei der Abstimmung über den Tarifabschluss für kommunale Kindertagesstätten und Sozialeinrichtungen: Während die ebenfalls am Abschluss beteiligte GEW 84 Prozent Zustimmung für den Abschluss erwarb, votierten bei Verdi nur etwas mehr als die Hälfte der Betroffenen (55 Prozent) für den Vertrag.

Für Verdi war der tarifpolitische Aspekt jedoch immer nur eines der beiden strategischen Standbeine. Die zweite Zielsetzung sah die Gewerkschaft als machtvollen politischen Akteur. Anders als die SPD-nahen Facharbeitergewerkschaften, welche sich im Umgang mit der Regierungspolitik Gerhard Schröders zerrissen zeigten, war Verdi parteipolitisch weit weniger festgelegt. Obwohl ihr Vorsitzender Frank Bsirske selbst bekennendes Mitglied der Grünen ist, pflegte Verdi gegenüber der sich neu formierenden Linkspartei eine relativ große Offenheit. Während viele Metaller der Fusion von WASG und PDS 2005/07 skeptisch gegenüberstanden, erwiesen sich die linken Traditionen, welche besonders in den Verdi-Vorgängern IG Medien und HBV bestanden, als äußerst vital. Deren einstige Vorsitzende, Detlef Hensche und Bodo Ramelow, beförderten das Links-Projekt nachhaltig.

Aber auch außerparlamentarisch sah sich Verdi stets von einem starken Bewegungsimpetus getrieben. Der neoliberalen Diskurshoheit durch den Protest auf der Straße die Stirn zu bieten, war ihr Ziel. Verdi zeigte Flagge gegen Hartz IV, gegen die Rente mit 67, aber auch gegen G8-Gipfel, gegen die Atomindustrie und gegen Rechtsradikalismus. Verdi mischte mit und mischte sich unter die sozialen Bewegungen. Bereits wenige Monate nach ihrer Gründung wurde die selbsterklärte Bewegungsgewerkschaft Mitglied im globalisierungskritischen Netzwerk Attac. Aktiv wollte man von den US-Gewerkschaften lernen, soziale Bewegung zu werden. Letztlich endeten die meisten Bewegungsproteste der vergangenen Jahre jedoch erwartbar erfolglos: Weder Hartz IV noch die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke konnte der Bewegungsverbund stoppen. Den anhaltenden politischen Machtverfall der Gewerkschaften, welche noch in den 1970er Jahren anerkannte Verhandlungspartner aller Parteien waren, konnte auch die Bewegungsgewerkschaft Verdi nicht aufhalten.

Die ersten zehn Jahre Verdi können nur schwerlich als eine Erfolgsstory geschrieben werden. Trotz einiger Arbeitskampferfolge kann die Gesamtschau kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Integrationsstrategie des Dienstleistungssektors gescheitert ist. Dieser dürfte auch auf lange Sicht fragmentiert bleiben und Verdi wird hier nur die größte unter vielen Gewerkschaften sein, während die Konkurrenz zwischen den Verbänden im dritten Sektor weiter wachsen dürfte. Als politischer Akteur könnte Verdi jedoch Vorreiter einer neuen Generation der Gewerkschaften nach dem Ende des korporatistischen Zeitalters werden. Als ressourcenstarker Protestakteur ist zumindest eine indirekte Einflussnahme durch verstärkten Druck auf die Politik denkbar. In ihrem zweiten Jahrzehnt könnte Verdi die Tür zu einer neuen Ära der Gewerkschaften aufstoßen, in der Tarifpolitik gegenüber der politischen Einmischung keinen Vorrang mehr einnimmt.

Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.