Am institutionellen Nullpunkt

[gastbeitrag]: Crosspost vom sicherheitspolitik-blog: Irene Weipert-Fenner über die politischen und verfassungsrechtlichen Probleme in Ägypten.

Allein der Zeitpunkt, den der Oberste Militärrat für die Modifikationen an der Verfassungserklärung vom März 2011 wählte, spricht Bände: kurz bevor die Wahllokale am Sonntag für die Stichwahl zu Ägyptens neuen Präsidenten schlossen, gaben die staatlichen Medien bekannt, dass neue Verfassungsänderungen in Kraft getreten waren. Klarer konnten die Generäle nicht ausdrücken, wie wenig sie an einer demokratischen Neuordnung interessiert sind. Vielmehr stellen die konstitutionellen Neuerungen einen weiteren Versuch dar, die Macht und die Unabhängigkeit der Generäle zu festigen und sogar noch zu erweitern. Bereits im Herbst 2011 hatte dies der Militärrat versucht, zu jener Zeit in der Form sogenannter supra-konstitutioneller Prinzipien, die das Militär vor der Kontrolle durch politische Akteure absichern und stattdessen der Armee ein Veto über den Verfassungsprozess sichern sollten. Die am Sonntag in Kraft getretenen Änderungen gehen jedoch noch darüber hinaus.

Es scheint, als sei nun der kritische Punkt erreicht. Das Parlament wurde am 14. Juni aufgelöst, nachdem das Oberste Verfassungsgericht das Wahlgesetz und damit die letzten Parlamentswahlen als verfassungswidrig erklärt hatte. Eine neue Verfassung gibt es noch nicht, eine erste verfassungsgebende Versammlung, die vom Parlament bestimmt worden war, wurde von säkularen Kräften als zu sehr von Islamisten dominiert boykottiert. Nun fanden die Präsidentschaftswahlen statt. Das Problem: die Rechte und Pflichten des zukünftigen Präsidenten sind noch nicht definiert. An diesem institutionellen Nullpunkt zieht die Armee nun Grenzen ein, die ihre Privilegien schützen sollen.

Oft als Staat im Staate bezeichnet, versucht sich die Armee nun von den letzten Interventionsmöglichkeiten der Politik zu befreien. Vor der Revolution 2011 stand dem Obersten Militärrat stets der Präsident der Republik vor. Ohne eine Verfassungsänderung hätte dies nun bedeutet, dass womöglich der Muslimbruder Muhammad Mursi den Vorsitz übernommen hätte. Dem ist nun ein Riegel vorgeschoben worden, in dem – bis zu einer neuen Verfassung – der Oberste Militärrat sich als verantwortlich für seine Angelegenheiten sowie die der ganzen Armee definiert. Er macht sich zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte und bestimmt selbst den Verteidigungsminister.

Weiterhin ist nun vorgeschrieben, dass Ägypten nur mit Zustimmung des Militärrates in einen Krieg eintreten kann. Durch dieses Vetorecht sichern sich die Generäle ihre Bedeutung für den Frieden Ägyptens mit Israel, dessen Aufrechterhaltung sie sich weiter von den USA in Form von Militärhilfen versilbern lassen können. Doch nicht nur über Krieg und Frieden mit anderen Ländern wollen die Generäle mitentscheiden. In den Verfassungsänderungen wird der Einsatz von Militärpolizei und -geheimdiensten gegen Zivilisten erlaubt und damit die konstitutionelle Absicherung für das bereits seit Monaten andauernde Vorgehen gegen Aktivisten geliefert. Bereits eine Woche zuvor war dies per Dekret des Justizministeriums erfolgt, was als Wiederauflage des Jahrzehnte lang in Kraft gewesenen Notstandsgesetzes interpretiert wurde. Nun ist dies sogar auf Verfassungsrang gehoben worden.

Säkulare und liberale Kräfte hatten im Frühjahr 2011 in einer „constitution first“-Kampagne versucht zu erreichen, die Wahlen zu sämtlichen Staatsorganen erst nach dem Erlass einer neuen Verfassung abzuhalten. Dem wurde nicht stattgegeben, weil zum einen die Muslimbrüder hofften, durch ein von ihnen dominiertes Parlament auch die verfassungsgebende Versammlung und damit die Verfassung zu bestimmen. Zum anderen zielte auch die Armee auf die größtmögliche Kontrolle des Verfassungsprozesses. Dies scheint sie nun in der Tat erreicht zu haben. Sollte die erst letzte Woche neu konstituierte Versammlung nicht innerhalb der nächsten sieben Tage ihre Arbeit aufnehmen, so kann die Armee selbst eine Versammlung bestimmen – und damit handverlesene Personen einsetzen. Das ist im Moment sogar äußerst wahrscheinlich, da durch die festgestellte Verfassungswidrigkeit des Parlaments auch die vom Parlament bestimmte konstitutionelle Versammlung als verfassungswidrig einkassiert werden könnte. Ohnehin ist es aber auch diesmal ungewiss, ob nicht die von den Muslimbrüdern bestimmte Versammlung wieder von anti-islamistischen Akteuren boykottiert werden wird.

Doch selbst für den Fall, dass der Militärrat die Versammlung selbst einberuft, behält er sich selbst, dem Obersten Justizrat, dem Präsidenten, dem Premierminister und mindestens einem Fünftel des Parlaments vor, Artikel anzufechten, die „im Widerspruch mit den Zielen der Revolution stehen“. Jene haben sich bereits in der Vergangenheit als äußerst dehnbar erwiesen. Für den Fall eines Konflikts über einen Verfassungsartikel, der länger als zwei Wochen andauert, wird das Oberste Verfassungsgericht den Streit entscheiden. Damit würde das höchste Gericht über die eigene Rechtgrundlage bestimmen, was das gesamte Prozedere der Verfassungsgebung endgültig ad absurdum führen würde. Sollte darüber hinaus tatsächlich der Kandidat des Militärrats, Ahmad Schafik, die Präsidentenwahl gewinnen, gäbe es im Moment keine militär-kritische Stimme im Verfassungsprozess.

Laut der neuesten Verfassungsänderungen übernimmt nun angesichts der Auflösung des Parlaments der Militärrat wieder die Aufgabe der Legislative inklusive Budgetrecht. Der betreffende Artikel sieht vor, dass nach einer dreimonatigen Erarbeitung einer neuen Verfassung durch die Versammlung innerhalb von 15 Tagen ein Referendum darüber stattfinden soll. Nach Inkrafttreten sei dann innerhalb eines Monats ein neues Parlament zu wählen. Damit wären wieder mindestens vier Monate für die Militärs gewonnen, die eigene Macht weiter zu zementieren.

Die Dreistigkeit der Armee, ihre Rechte nach Belieben konstitutionell abzusichern, hatte bereits im Herbst 2011 für immensen Protest gesorgt, der im November und Dezember zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Armee in Downtown Kairo geführt hatte. Und auch dieses Mal sollte man nicht damit rechnen, dass die Armee ihre Macht ungehindert ausüben kann. Die Muslimbrüder um ihren Präsidentenkandidaten Mursi haben bereits Protest angekündigt. Mit Sicherheit werden sie hier Verbündete bei den Jugendbewegungen, Gewerkschaften und liberalen Kräften finden.

Doch wohin wird der Widerstand führen? Zwar ist das Hin und her der Transformation des politischen Systems bekannt, doch scheint sich der Kampf mit der Armee zuzuspitzen. Das Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des Militärs, an einem demokratischen Wandel interessiert zu sein, ist bereits im Lauf des letzten Jahres sukzessive geschwunden, dagegen wird die Sorge über die aktuelle Wiedereinführung einer Militärdiktatur immer größer. Gleichzeitig ist es aber für die Demokratiebefürworter sehr schwer, sich für eine Strategie im Kampf gegen den Militärrat zu entscheiden. Geht man außerhalb der Institutionen in Demonstrationen und Sit-ins vor, besteht die Gefahr, als Dauerunruhestifter gebrandmarkt zu werden und – wie beispielsweise die Streikbewegung der Arbeiter – auch für die wirtschaftliche Misere verantwortlich gemacht zu werden. Diese von den staatlichen Medien propagierte Sichtweise fällt bei immer mehr Menschen in Ägypten auf fruchtbaren Boden, sind doch viele mittlerweile der Unsicherheit und den weiterhin schlechten Lebensbedingungen müde.

Jedoch hat die Teilnahme am politischen Prozess samt Wahlen und Institutionen bisher offensichtlich nicht den gewünschten Regimewandel gebracht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Armee die alte Strategie verfolgt, Gesetze zu setzen, diese möglichst vage lassen und somit je nach Bedarf zu interpretieren. Nicht völlige Rechtlosigkeit, sondern beständige Rechtsunsicherheit war auch schon zu Mubaraks Zeiten ein fester Bestandteil der Herrschaftsstabilisierung – und scheint es jetzt mit den neuesten Verfassungsänderungen wieder mehr denn je zu sein.

Dieser Text erschien zuerst im sicherheitspolitik-blog.

Irene Weipert-Fenner ist Doktorandin am Exzellenzcluster “Die Herausbildung normativer Ordnungen” der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind autoritäre Regime, Parlamentarismus sowie Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens.