Warum die Sozialwissenschaft Geschichten erzählen muss.

[kommentiert]: Miriam Zimmer kommentiert die Rolle von Erzählungen in der Wissenschaftssprache.

Die Sozialwissenschaften haben – wie alle anderen Bereiche der Forschung – das erklärte Ziel und den gesellschaftlichen Auftrag, die Wirklichkeit in sämtlichen Aspekten zu beobachten, beschreiben und erklären. Dafür bekommen sie zu Recht umfangreiche öffentliche Gelder zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug wird jedoch eine doppelte Erwartung an sie herangetragen: Einerseits soll sozialwissenschaftliche Forschung Expertisen entwickeln, um mit nationalen und internationalen sozialen Herausforderungen besser umgehen zu können. Wissenschaftlerinnen sitzen in Expertenkomissionen und beraten Politik, Wirtschaft und andere gesellschaftliche Akteure. Andererseits sollen die sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch noch eine zweite Funktion erfüllen, und zwar die Bildung und Aufklärung. Damit ist nicht primär die Ausbildung der Studierenden an den Universitäten zu neuen Sozialwissenschaftlerinnen gemeint, sondern vielmehr die breite Aufklärung der zivilen Öffentlichkeit. Diese wichtige Rolle wird  jedoch leider oft geringgeschätzt oder gar vergessen.

Dass die Sozialwissenschaften – gerade in ihrer zweiten Funktion – die Anbindung an ihr Publikum verlieren, wird unter anderem daran deutlich, dass sozialwissenschaftliche Stimmen immer seltener in populären Medien zu Wort kommen. Bekannte wissenschaftliche Größen wie Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno und Walter Jens haben bisher keinen Nachwuchs in den aktuellen Debatten gefunden. Vielen Sozialwissenschaftlern ist es nicht wichtig, außerhalb wissenschaftlicher Fachjournale Gehör zu finden; ebenso wenig wird die Wahrnehmung dieses öffentlichen Auftrages in der universitären Personal- und Gehaltspolitik belohnt. Und entsprechend abgekapselt präsentieren sich auch viele sozialwissenschaftliche Publikationen in puncto Sprache und Stil.

Die sozialwissenschaftlichen Begriffe, Formulierungen und Wendungen sind für den Laien oft unverständlich. Dies mag vielleicht zum Teil darin Erklärung finden, dass sich Wissenschaft allgemein immer stärker ausdifferenziert – und damit auch deren Vokabular und Zusammenhänge. Wissenschaft ist kompliziert, differenziert und oft sehr kleinteilig. Doch die Kommunikationsforschung hat schon lange festgestellt, dass man auch komplizierte Sachverhalte, die es in wissenschaftlichen Zusammenhängen immer schon gab, erklären kann. Man muss sich eben geschickt zu artikulieren und den Adressaten an seinem Ausgangspunkt „abzuholen“ wissen. Diese Kunst scheint jedoch tief verschüttet und wenig erstrebt.

Dass es  bei der Vermittlung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse neben der wissenschafts-typischen, logisch-rationalen Beweisführung, die oft trocken, zäh und unzugänglich ist, auch noch einen zweiten Weg gibt, wusste schon Max Weber Anfang des letzten Jahrhunderts: Er stellte fest, dass sich auch ein äußerst komplexer Sachverhalt ebenso einleuchtend – und mehr: besonders anschaulich – durch einen sinnlich-nacherlebenden Zugang darstellen und erklären lässt. Dieser Zugang bezieht bewusst die ‚empathischen‘ Fähigkeiten der Rezipientin mit ein.[1] Neben bildlicher, metaphernreicher Sprache und aufmerksamer Schilderung sinnlicher Erfahrungen ist das Erzählen von Erlebnissen in Form von Geschichten eine geeignete Strategie, um Leser oder Hörerinnen mit einem Gegenstand eng und nachhaltig vertraut zu machen.

Erfolgreiche Anwenderinnen dieses Zugangs – und damit vielleicht auch Vorbilder für wissenschaftliche Kommunikation – sind die Religionen der Welt. Sie verstehen es seit Jahrtausenden, Geschichten zu erzählen, die Menschen faszinieren und beschäftigen. Diese Geschichten dienen aber meist nicht primär zur Unterhaltung, sondern vermitteln oft hoch komplexe Inhalte. Als bekannte Beispiele im christlichen Kulturkreis sind z. B. die Gleichnisse Jesu im Neuen Testament zu nennen. Hier werden moralphilosophische Dilemmata anhand von Geschichten dargestellt und diskutiert. Der Mehrwert gegenüber logisch-rationalen Abhandlungen ist im religiösen Feld offensichtlich. Menschen aller gesellschaftlichen Schichten, aus allen Epochen haben einen Zugang zu diesen Geschichten gefunden und konnten sich innerhalb ihrer eigenen lebensweltlichen Erfahrung mit den Inhalten auseinandersetzen. Ein zweiter Vorteil ist ebenso augenfällig: Diese Geschichten haben sich, trotz begrenzter Schreib- und Lesefähigkeiten der Zuhörer- bzw. Leserinnenschaft, über Jahrtausende erhalten – und das nicht ohne Grund. Der nacherlebende Zugang spricht alle Sinne an und wird dadurch schneller und besser im Gedächtnis abgespeichert. Das spätere Erinnern an das sinnlich (Nach-)Erlebte fällt dadurch um einiges leichter als die Wiedergabe rational-logischer Argumentationsstrukturen.

Doch nicht nur in den Religionen haben Geschichten Erfolg. Es gibt durchaus auch Beispiele aus der Wissenschaft, gerade in den Geistes- und Humanwissenschaften, die große Popularität durch ihre Erzählungen erlangten. Als ältester wissenschaftlicher Erzähler ist wohl Platon zu nennen, dessen Geschichten bis heute bekannt sind und immer noch häufig nacherzählt werden, um auch hier ethische Dilemmata darzustellen. Das Höhlengleichnis beginnt z. B. mit: „Stelle dir Menschen […] vor…“ und regt damit schon gleich zu Beginn die Hörerin oder den Leser zum Nacherleben an. Im Gleichnis wird dann erzählt, wie ein Gefangener aus einer Höhle nur durch Zwang befreit wird, weil er sich vor der Blendung des Lichtes fürchte. Doch erst nach der gezwungenen, ja geradezu gewalttätigen Befreiung ist der Mensch in der Lage, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. In dem Gleichnis wird, z. B. in der Beschreibung der Blendung der Augen durch zunächst das Feuer und später die Sonne, das sinnliche Empfinden intensiv dargestellt. Gleichzeitig wird durch die genaue Schilderung des Befreiten auch dessen Gefühlszustand differenziert beschrieben. Diese Darstellung regt das emotionale Nacherleben des Lesers an und führt fast unmittelbar zur Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Das Gleichnis und seine Relevanz für das eigene (philosophische) Leben sind nur durch diesen sinnlichen und emotionalen Zugang verständlich.

Aber auch einige sozial-, aber auch naturwissenschaftliche Untersuchungen, die sich noch heute breiter Bekanntheit erfreuen, tun dies deswegen, weil ihre Zusammenhänge – also beispielsweise das überraschende Ergebnis oder die skrupellosen Bedingungen, unter denen sie stattfanden – immer wieder in Geschichten verpackt erzählt werden. Viele Menschen wissen z. B. heute, dass ein Mensch ohne menschliche Zuneigung nicht lebensfähig ist. Diese Erkenntnis haben sie jedoch nicht gewonnen, weil sie rational gelernt haben, welche neurologischen oder psychologischen Prozesse durch Zuneigung ausgelöst werden und wie sich deren Resultate wiederum auf andere Körperfunktionen auswirken. Nein, viele kennen aber die Geschichte, wie Kaiser Friedrich II. die Ursprache herausfinden wollte, indem er Säuglinge zwar gut versorgen ließ, aber den Ammen verbot, mit ihnen zu sprechen oder sonst mit ihnen eine Beziehung aufzubauen. Die Säuglinge starben durch die fehlende Zuneigung. Diese Geschichte ist in ihrer Folge so grausam, ja unmenschlich, dass das Experiment und sein nicht intendiertes Ergebnis im Gedächtnis bleiben.

Nur selten kommen Geschichten jedoch heutzutage noch zum Einsatz; sie aufzuspüren, bereitet große Mühe. Vor kurzem war der bekannte Wissens- und Religionssoziologe Peter L. Berger in Göttingen. Er sprach in seinem Vortrag über den religiösen Wandel in der Welt. Dabei beleuchtete der 83-jährige Soziologe neueste religiöse Phänomene in den USA, Indien und auch Europa. Nachdem er eine Weile über verschiedenste Manifestationen des amerikanischen Protestantismus und des Hinduismus in Bangalore erzählt hatte und der Vortrag sich gen Ende neigte, setzte er noch einmal mit folgenden Worten an: „Now, let me end with an episode. –  A few years ago …“. Während der letzten zehn Minuten seines Auftritts erzählte er sehr lebendig von seinem eigenen Erlebnis deutscher Alltagssäkularität auf der Suche nach einem sonntäglichen Gottesdienst in Dresden. Diese Episode war so lebhaft erzählt – so nacherfahrbar im Raum –, dass dem Publikum der Inhalt des gesamten Vortrages auf einmal sehr gegenwärtig und greifbar wurde.

Diese Fähigkeit, oder vielleicht auch die Muße, Geschichten zu erzählen, genau hinzusehen und Zustände auch detailliert sinnlich nacherlebbar zu beschreiben, um sich und die eigenen Ergebnisse damit zu erklären, ist den Sozialwissenschaftlerinnen vielerorts verloren gegangen. Geschätzt wird – zumindest lässt das ein Blick auf die Publikationslandschaft vermuten – eine logisch-rationale und möglichst  abstrakte Argumentation. Diese hat innerhalb der wissenschaftlichen Debatten ja durchaus ihre Berechtigung und ist auch zentral für den Erkenntnisgewinn. Im öffentlichen Diskurs, also der Außenkommunikation der Wissenschaft, provoziert und verstärkt sie jedoch das gegenseitige Unverständnis zwischen wissenschaftlichen Experten und Laien, was leider auch gerade ob der unterschiedlichen Kommunikationswege und -weisen in gegenseitige Geringschätzung mündet. Will Wissenschaft also wieder ihre öffentliche Funktion der Bildung und Aufklärung wahrnehmen und mehr in der öffentlichen Debatte mitreden, so muss sie wieder lernen, zu erzählen. Dafür braucht es jedoch auch genügend Raum. In wissenschaftlichen Fachzeitschriften, wo viel Inhalt auf eine geringe Zeichenzahl zusammengepresst werden muss, ist kaum Platz, um das neue Wissen zu erzählen. Eine andere Form der Vermittlung braucht also nicht zuletzt auch neue Formate.

Miriam Zimmer ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe.