[kommentiert]: Robert Pausch über die Rede des Bundespräsidenten zum Neoliberalismus.
Eine unbequeme Wahrheit sollte es wohl sein, die Joachim Gauck mit seinem Plädoyer für den deutschen Neoliberalismus auszusprechen gedachte. Unbequem, weil Gauck „neoliberal“ heutzutage zu Unrecht zum Kampfbegriff verkommen sieht. Und unbequem, weil er von einem diskursiven Klima auszugehen scheint, in dem individuelle Freiheiten von staatlichen Allmachtsansprüchen bedroht werden. Seine mantraartige Freiheitsapologie, bisher auf bürgerrechtliche Sphären begrenzt, wird somit auch auf die Wirtschaft ausgeweitet, denn: „Ungerechtigkeit gedeiht gerade dort, wo Wettbewerb eingeschränkt wird“. Und wie so oft, wenn ein Argument mit dem Label einer unbequemen Wahrheit versehen wird, finden sich in der Debatte anschließend jene, die froh sind, dass es „endlich“ mal jemand ausspricht. Politische Kommentatoren von der „Welt“ – die reflexhaft eine Lobeshymne auf Ludwig Erhard anstimmt – bis zur „Zeit“ verneigen sich vor dem Präsidenten, der mit gewohnt pastoralem Gestus „mehr intellektuelle Redlichkeit“ und „mehr historisches Bewusstsein für das breite Spektrum des Liberalismus“ anmahnt. Denn im Gegensatz zu seinem angelsächsischen Pendant habe dieser, in Gestalt des Ordoliberalismus, schließlich die soziale Marktwirtschaft und den Wohlstand für alle mit sich gebracht und eben nicht das freie, ungezügelte Spiel der Kräfte.
Nun ist es so, dass sich ein Bundespräsident, dessen wichtigstes, ja beinahe einziges Machtinstrument das Wort ist, sich an seinen eigenen Reden messen lassen muss. Wenn Gauck also mehr intellektuelle Redlichkeit und historisches Bewusstsein fordert, sollten die kulturhistorischen Analysen des deutschen Neoliberalismus nicht außer Acht gelassen werden, so man sich denn anschickt, eine Lobeshymne auf ihn zu halten. Eine der aufschlussreichsten dieser Analysen liegt mehr als dreißig Jahre zurück und stammt von Michel Foucault.
In seinen Vorlesungen am Collège de France 1978/1979 setzte sich Foucault, eben wie von Gauck gefordert, mit den unterschiedlichen Spielarten des Liberalismus auseinander. Ausgehend von der wegweisenden Durchsetzung der freien Preisbildung durch die Freiburger Wirtschaftswissenschaftler beschrieb er, wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg das von Ordoliberalen erdachte Wirtschaftskonzept die Entstehung staatlicher Strukturen bedingte, wie Ludwig Erhard bereits 1948 die Legitimation des späteren Nationalstaates an dessen Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheiten knüpfte und wie so schließlich die Wachstumserzählung konstitutives Merkmal des politisch-ökonomischen Systems in Deutschland wurde. „Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum wird eine erloschene deutsche Geschichte ablösen“, so die These Foucaults.
Herfried Münkler hat eben diesen Punkt in seinen Darstellungen politischer Mythen aufgegriffen. Er erkennt in der wirtschaftlichen Ordnung den „gründungsmythischen Kern“ und im immerwährenden Prosperitätsversprechen folglich die Leiterzählung der Bundesrepublik.
Wenn staatliche Legitimität also an eine intakte Marktwirtschaft geknüpft ist, wenn Wachstum zu einem gesellschaftlichen Narrativ erhoben wird, so drängt sich die Frage auf: Was passiert, wenn das Ende dieser Erzählung erreicht ist?
Dass wir derzeit Zeugen einer der verheerendsten ökonomischen Krisen in der Geschichte des Kapitalismus sind, ist mittlerweile eine Binse. Dass diese Krise den Geist eines nimmersatten Wachstumsstrebens atmet, ebenso. Die Endlichkeit der Ressourcen und die „Grenzen des Wachstums“ sind nunmehr seit 1972 Allgemeingut. Und dennoch: Analysen wie jene Niko Paechs, der darlegt, wie das Fortschrittsparadigma, seit der „Frühphase der Moderne von einer Steigerungslogik beseelt“, zur Hauptursache der multiplen Gegenwartskrisen wurde, finden außerhalb elaborierter akademischer Kreise kaum Gehör. Eine breite Diskussion um „Post-Wachstum“ ist nicht in Sicht.
Unbequeme Wahrheiten sollte ein Bundespräsident aussprechen, Debatten in Gang bringen, die sonst womöglich nicht geführt würden. Als moralische Instanz qua Amt, dem um missmutige Wähler und empörte Lobbyisten nicht bange sein muss. Erst die Frage danach, wie Gesellschaft jenseits der bestehenden Imperative zu denken ist, wäre unbequem, allein Gauck stellt sie nicht. Stattdessen wird eine Debatte um Begrifflichkeiten geführt. Dass der Ordoliberalismus sich auch als neoliberal verstand, aber doch nun wirklich nicht so böse sei wie der Laissez-Faire- Kapitalismus Hayek’scher Prägung – geschenkt. Die besondere Verquickung von wirtschaftlichen Freiheiten, Prosperitätsversprechen und staatlicher Legitimation bleibt unberücksichtigt, die Folgen werden ausgeblendet, die Debatte verharrt in ausgetretenen Pfaden.
Robert Pausch ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.