Zauber jenseits der Transparenz

[analysiert]: Franz Walter über die Rolle der Transparenz in der Politik.

„Transparenz“, „Öffentlichkeit“, „Authentizität“ – all das sind die gegenwärtigen Glaubensbekenntnisse der säkularisierten Gesellschaft. Dabei: Zivilisation ist abhängig davon, dass sich Menschen nicht jederzeit schonungslos die Wahrheit sagen, dass sie nicht mit trompetenhafter Ehrlichkeit unumwunden kundtun, was sie vom anderen halten. Der tyrannische Drang zur kompromisslosen Offenheit würde zu Zerwürfnissen führen, sich zu einer ungeheuren Aggressivität aufladen. Dezenter Euphemismus und taktvolle Schmeicheleien sind unverzichtbare Grundvoraussetzungen eines halbwegs auskömmlichen Umgangs miteinander.

Das gilt für die menschliche Gesellschaft allgemein. Für die Politik stellt sich das Problem noch schärfer. Denn in der Politik geht es um Macht. Regierende Eliten müssen über die Fähigkeit verfügen, in ihren Gesellschaften Verbindlichkeiten zu erzwingen. Sie haben den Zugriff auf das Gewaltmonopol. Man erwartet von ihnen den Schutz der elementaren Lebensinteressen und Güter – gegen mögliche Usurpatoren im Inneren und Äußeren, von denen nicht zu erwarten ist, dass sie ihre niederträchtigen Absichten offenherzig preisgeben und von ihrem üblen Treiben durch Transparenzgebote lassen.

Insofern müssen Politiker kaltschnäuzig, unsentimental, knochenhart, listig, ausgekocht sein. Sie müssen als kühl kalkulierende Strategen überzeugen. Aber ein Stratege darf um Himmels Willen nicht auf dem offenen Markt Wahrheiten ausplaudern. Ein Stratege kann seine Karten nicht offen legen. Ein Stratege hat die nächsten Züge nicht anzukündigen, gar zur Abstimmung zu stellen. Ein Stratege operiert geheim; er täuscht, legt falsche Spuren, gräbt Fallgruben, lauert hinter Hecken. Ein Stratege und großer Politiker muss – ja, er muss – zuweilen potemkinsche Dörfer errichten, ohne jeden Skrupel von links nach rechts und wieder zurück rochieren, mindestens den Gegner durch falsche Ankündigungen hinterhältig in die Irre führen. Er muss nur aufpassen, dass dies alles zugleich einen hernach plausibel erklärbaren, glaubwürdigen Kern besitzt.

Jedenfalls: Irreführung, Maskerade, der Winkelzug verlangen weit mehr Geschick, Raffinesse und Phantasie als die komplexitätsscheue Prinzipientreue. Kreativität und unbeugsame Haltung koinzidieren schlecht. Mit den Worten des unbestechlichen Analytikers menschlichen Selbstbetrugs, Friedrich Nietzsche: „Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer’ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: die Lust ist ursprünglicher als der Schmerz.“

*

Und im Übrigen lehren uns die Erfahrung und Niklas Luhmann, dass nichtöffentliche Verfahren „Vernunft und Entgegenkommen“ erleichtern. Die Öffentlichkeit des politischen Marktplatzes fördert hingegen die Pose, die demagogische Rollenfigur, die aufpeitschende Rede an die eigenen Leute. Je aufgewühlter diese Öffentlichkeit dadurch wird, desto artifizieller polarisiert ist die Szenerie. Und am erschöpften Ende steht erst recht das Arkanum der elitären Kleinzirkel aus Repräsentanten der kontroversen Lager, die im Verborgenen den „Kompromiss“, die „Friedenslösung“ herstellen müssen. Die radikale Öffentlichkeit erzeugt die Oligarchie, der sie eigentlich widerstreben wollte.

*

Vor fast dreißig Jahren bereits hatte der Psychoanalytiker und Philosoph Bernd Nitschke festgestellt: „Menschen, die alle Hülle fallen lassen, werden nicht authentisch, sondern nur verrückt.“ Er stand darin in der Tradition der Anthropologie des großen Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner, der in seiner 1924 veröffentlichten Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ eine radikale Gegenposition zu den nicht minder radikalen Apologeten von „Authentizität“, „Identität“, „Gemeinschaft“ eingenommen hatte. Plessner empfahl, die Öffentlichkeit nur im Kleid der Rüstung zu betreten; andernfalls mache man sich lächerlich, stehe nackt und angreifbar da. Allein die mangelnde Direktheit im Umgang, der Takt des Verschweigens könne allmählich Annäherung unter anfangs Fremden ermöglichen. Der Kult des unmittelbaren Bekenntnisses und der rigorosen Aufrichtigkeit führe hingegen in die Tyrannei, zumindest in gesellschaftliche Kälte. Die Zivilisation lebe von der Künstlichkeit vieler Beziehungsformen; sie gewähre so den Schutzraum für Kreativität, den der Imperativ zur steten Selbstpreisgabe jedes Einzelnen rücksichtslos zerstöre. Individualität entfalte sich allein jenseits vom Druck identitärer Gemeinschaften und permanenter Transparenz.

 Um Plessner hier ausführlich zu zitieren:

 „Nur das Geheimnisvolle, Unentdeckte und Verhüllte zieht uns an, nur das Verborgene strömt den Zauber aus, der ungeahnte Möglichkeiten verheißt. Die Welt, wenn wir sie beim Wort nehmen, speist uns mit Enttäuschungen ab. Gibt es Entbehrungen, den nackten Hunger ausgenommen, welche nicht nach jener irrealen Befriedigung drängen, nach Sättigung mit dem Zauber unbestimmter Verheißung mehr Verlangen als mit dem, was wirklich zu haben ist? Verfahren wir wie das Kind mit der Puppe, sehen wir nach, was in den Dingen, in den Menschen, in all dem aufregenden dieser fabelhaften Welt steckt, so werden wir kaum mehr als jene Art von atomisiertem Sägemehl entdecken, mit dem die »Wissenschaft« seit langem die nach Erkenntnis Hungernden füttert. Alles Eigentliche, bei Licht besehen, enttäuscht. Die Gestalten verlieren den Glanz, die Farbe und das Aroma wie eine Frucht, die man zu intensiv angefasst hat. Der Nimbus des Verhüllten lockt den Menschen an, in dem er ihn versucht, den Zauber zu brechen, das Geheimnis zu entschleiern. Aber wenn es nur Distanz und Fremdheit sind, welche Anziehend wirken, so wirken sie eben gerade in einer Richtung auf absolute Nähe und Bekanntschaft, in der der Nimbus zergeht. Abstoßung, welche anzieht, Anziehung, die schließlich abstößt.“

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.