[kommentiert]: Felix Butzlaff über die Studie „World Protests 2006-2013“
Bürgerproteste in Deutschland sowie in einigen europäischen Nachbarländern gehören zum Kern des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Weil politische Parteien bestimmte soziale Gruppen in der deutschen Gesellschaft kaum mehr erreichen und bestimmte Themenfelder kaum mehr glaubwürdig repräsentieren können, nehmen immer mehr Menschen die Vertretung ihrer Anliegen mit Nachdruck selbst in die Hand. Auch international häufen sich recht differente Protestphänomene : Vom „Arabischen Frühling“ zwischen Tunesien und Syrien über die chilenischen Studenten, die erst für eine Ent-Privatisierung des Bildungssystems und dann für eine gerechtere Gesellschaft auf die Straße gegangen sind, bis hin zu Protesten gegen Lebensmittelpreise oder drückende Arbeitsbedingungen in Afrika oder Südostasien reichen die Ereignisse, die es in die Tagespresse geschafft haben. Ob dahinter tatsächlich ein weltweiter Trend zu erkennen ist, haben sich eine Arbeitsgruppe um Sara Burke vom New Yorker Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und Kollegen von der Columbia University gefragt und zur Forschungsaufgabe gemacht.[1]
Die Forscher haben dabei in einer quantitativen Herangehensweise über 84 Länder, die knapp 92 Prozent der Weltbevölkerung beherbergen, für die überJahre 2006 bis 2013 untersucht. Dabei wurden die Akteure, Themen, Mittel und Auswirkungen verschiedener Proteste untersucht und Tendenzen herausgearbeitet. Insgesamt 884 Proteste wurden nach fünf Kriterien abgefragt: Was waren die Forderungen? Wer und wie viele protestierten? Wer war der Gegner bzw. an wen richteten sich die Proteste? Was haben sie erreicht? Und zuletzt, mit welchen Mitteln wurde ihnen begegnet?
Natürlich sind bei einer solch großen Fallzahl die Möglichkeiten, tief in die einzelnen Fälle einzusteigen oder individuell nach Entwicklungen etc. zu schauen, enorm begrenzt, und so werden viele Protestphänomene lediglich oberflächlich untersucht. Entscheidend ist dabei natürlich auch eine sinnvolle und einleuchtende Voranalyse, welche Quellen man überhaupt heranzieht. Im vorliegenden Projekt wurde versucht, durch die Auswahl eines international oder übernational anerkannten Mediums (wie etwa BBC, Al-Jazeera, Le Monde, New York Times etc.) plus eines anerkannten lokalen oder nationalen Mediums eine nicht allzu einseitige Auswahl von Protesten zu finden. Das Problem dabei allerdings ist, dass man, erstens, Proteste, die niedrigschwellig oder sehr lokal begrenzt stattfinden, kaum einschätzen kann, obwohl sie vielleicht gleichwohl einen starken Einfluss auf demokratiekulturelle Entwicklungen haben und, zweitens, gewalttätige oder hochkonfliktive Anordnungen überrepräsentiert werden, da diese mit höherer Wahrscheinlichkeit Eingang in Presseberichterstattung finden.
Die Aussagen der Protestsammlung erscheinen trotzdem interessant und liegen in Teilen eng an den bereits zu Deutschland und auch aus diesem Hause erhobenen Befunden, wenn auch mit völlig anderem methodischen Hintergrund und Untersuchungshorizont. Zunächst: Proteste haben über den Zeitraum 2006 bis 2013 deutlich zugenommen. Von 59 gefundenen Phänomenen 2006 ist die Zahl kontinuierlich angestiegen auf 160 2012 und auf 111 in der ersten Jahreshälfte 2013. Diese Tendenz findet sich für jede der untergliederten Weltregionen. Interessant ist, dass die Zahl der Proteste in Lateinamerika, Afrika und dem pazifischen Ostasien (im Vergleich mit South Asia) deutlich höher liegt als anderswo. Auch die Zahl gewalttätiger Proteste (Riots) hat zugenommen.
Untergliedert nach vier Einkommensgruppen (high-income, upper-middle-income, lower-middle-income, low-income), welcher die Proteste zugeordnet werden, ist augenscheinlich die aktivste Gruppe die bestsituierte: Sowohl hinsichtlich der absoluten Zahl an Protesten als auch der Zuwächse, haben Proteste der high-income-group weltweit am stärksten zugenommen. So wird für 2012 und 2013 knapp die Hälfte aller hier registrierten Proteste dieser Gruppe zugerechnet. Mit dem Einkommen nehmen auch die Protestzahlen ab.
Die beiden am stärksten vertretenen Obergruppen bei den Protestthemen sind Economic Justice and Austerity sowie Failure of Political Representation, die jeweils noch in acht bis zehn Untergruppen unterteilt sind. Proteste können aber gleichzeitig mehreren Unter- oder Obergruppen zugeordnet werden. Sichtbare Schwerpunkte hier sind die Felder Demokratie, Konzerneinfluss/Deregulierung, Reform der öffentlichen Verwaltung/Dienstleistungen, denen jeweils mehr als achtzig Proteste der High-Income-Group zugeordnet werden.
Dass Proteste in einer Welt von mehr und mehr zumindest oberflächlich demokratisch organisierten Staaten auch ein wachsendes Selbstbewusstsein und eine Art „Civil-Rights-Awareness“ repräsentieren und dass es sich dabei gleichzeitig im Schwerpunkt um ein Phänomen sich entwickelnder Mitte- und Oberschichten handelt, die über ein solches Selbstbewusstsein plus die entsprechenden organisatorischen Fähigkeiten verfügen bzw. diese ausprägen, passt ins Bild der deutschen Bürgerinitiativen. Insofern sind die stets süffisant kommentierten Bilder von Stuttgarter Demonstranten, die sich mit den Demonstranten in Kairo und Tunis oder ähnlich lautenden Plakaten in Madrid und anderswo solidarisierten vielleicht doch näher, als man ob der offensichtlich anderen Situation zunächst gedacht hat.
Gleichwohl bleibt eine solche Überblicksdarstellung durchaus problematisch im Detail. Etwa die Frage danach, was Proteste wirklich erreichen können – ob der zeitlichen Untersuchungsbeschränkung und der oftmals großen Distanz zum Untersuchungsgegenstand lässt sich kaum ernsthaft abschätzen, was genau durch soziale Bewegungen eigentlich beeinflusst wird. Eine reine Messung dieser Frage am Eintreffen der primären Forderung greift jedenfalls viel zu kurz. Dies macht allein die Tatsache deutlich, dass Verschiebungen im Umgang der Autoritäten und Behörden mit protestierenden Gesellschaften oder Gruppen kaum Niederschlag in einer solchen Herangehensweise finden können. Wenn etwa in Deutschland nun präventiv bei Bauvorhaben wie Stromtrassen, Umgehungsstraßen und Windanlagen bereits im Vorhinein Bürgertische und Umfragen veranstaltet werden, um möglichen Protesten zu begegnen, hat dies etwa auf die praktische Demokratie vor Ort bereits gravierende Auswirkungen – es würde von der hier verfolgten Methode aber kaum zu erfassen sein. Gerade vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass gleichwohl 37 Prozent der Proteste mit wenigstens einem Teilerfolg verbucht werden.
Insgesamt ist also die Studie zu den „World Protests 2006 bis 2013“ ein interessantes Panorama und bildet eine bemerkenswerte Tendenz ab. Dennoch weist sie mehr auf weiter notwendige Deutungsarbeit und Verständnisanstrengungen im Detail hin, als dass sie Fragen beantwortet. Aber das liegt ja durchaus im Interesse der Sozialwissenschaften, denn: Further research is necessary.
Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes „Die neue Macht der Bürger“ von 2012.
[1] Isabel Ortiz, Sara Burke, Mohamed Berrada, Hernán Cortés: World Protests 2006 – 2013, in: Initiative for Policy Dialogue and Friedrich Ebert Stiftung New York Working Paper 2013, September 2013, online abrufbarunter http://policydialogue.org/publications/working_papers/world_protests_2006-2013/.