[kommentiert]: Franz Walter über den Typus des Charismatikers in der Demokratie
Was sagen uns die historischen Erfahrungen über den Typus in der Politik, der scheinbar ansatzlos viel Wirbel auslöst, die Augen seiner Anhänger und Fans zum Leuchten bringt, sie wie pubertierende Teenies akklamieren und jubeln lässt, der die Edelfedern in ihren Kommentaren beschwingt, die Demoskopen in Verblüffung versetzt? Damit Missverständnisse gar nicht erst entstehen: Wir reden im Folgenden von einem konstruierten Typus, nicht von einer konkreten individuellen Person, erst recht und bestimmt nicht von jenem Kandidaten, dem seine Partei gegenwärtig zu hundert Prozent folgt, ebenfalls nicht von dem Bewerber für das höchste Staatsamt im Nachbarland, der dort gerade die urbane Mitte entzückt – auch wenn diese Eingangsbemerkung die eine oder andere gedankliche Analogie bei der Lektüre des Stücks hier vermutlich nicht vollständig forträumen wird.
Zunächst: Die Stunde solcher Figuren, die wie aus dem Nichts heraus einen polit-emotionalen Sturm entfachen, schlägt allein in Zeiten einer allgemeinen Ratlosigkeit, der Stagnation, ja Depression. Dann – und nur dann – ist die Bühne bereitet für den Auftritt der Künder des Anderen, der den Mutlosen den Weg aus dem Jammertal in das gelobte Land neuer Gemeinschaftlichkeit verspricht.
Sie können damit ein furioses Spektakel in Szene setzen. Sie sind in der Lage, wenigstens für einen politischen und gesellschaftlichen Moment Leidenschaften zu entfesseln und ermüdete Gruppierungen aus ihrer Erschlaffung und Trägheit zu reißen. Charismatische Leitgestalten dieser Sorte sind Aktivierer. Ihr Drang richtet sich nach außen. Ihnen reicht nicht die introvertierte Enge eines selbstgenügsam vor sich hindämmernden Ortsvereins. Oft produzieren sie eine neue, besonders einsatz- und initiativfreudige Apostelschar. Etwas moderner und (partei)politisch angemessener ausgedrückt: Der charismatische Appell zielt auf einen Wechsel, eine grundlegende Erneuerung in der Repräsentationsschicht politischer Organisationen. Die Verzagten und Ausgebrannten dürfen abtreten, mögen frischen, noch enthusiastischen Kräften Platz machen.
Es ist wohl so, dass Gesellschaften in regelmäßigen Abständen an Inspirationsdefiziten, an mangelndem Elan leiden. Das ist nicht die Stunde der Pragmatiker und Administratoren, der soliden Handwerker des Politischen. Dann treten auf einmal die von der Alltagsroutine schnell gelangweilten, an den Fragen präziser Details eher uninteressierten Männer oder Frauen mit ihrer betörenden Rhetorik der Empathie und des besseren Morgen nach vorn. Und das Publikum winkt plötzlich nicht verächtlich ab, sondern hört ihren zu, findet Gefallen am ungewöhnlichen Auftritt, der lange nicht mehr gehörten Aussicht auf Umkehr und Reinigung. Immerhin, zuweilen vermögen diese Künder des Anderen strukturelle Beschränkungen und bürokratische Restriktionen für einen kurzen Moment hinter sich zu lassen und Hoffnungen auf etwas Neues – was immer es auch sein mag, gar nicht selten wird es als Rückkehr des guten Alten gepriesen – schüren. Politpropheten dieser Sorte mit hinreichend realpolitischem Hintergrund können, wenn alle Faktoren günstig zusammentreffen, in der Tat im richtigen historischen Augenblick Bewegung bringen, Lähmungen und Erstarrungen überwinden.
Politiker wie Ludwig Erhard oder Willy Brandt trugen in ihrer besten Zeit moderat charismatische Züge, hatten wohl auch so etwas wie eine Vision jenseits der sonst als ehern ausgegebenen Empirie des gegenwärtig Faktischen. Als Macher an der Spitze ihrer Bonner Kabinette scheiterten sie zum Schluss zwar einigermaßen ernüchternd, wie letztendlich – und oft schlimmer – fast alle Charismatiker als Regierungsführer in modernen Demokratien. Doch hatten sie zunächst mit kräftigen Erklärungsformeln und couragierten Aktionen bis dahin blockierte Wege gebahnt, dadurch den politischen Gestaltungsraum weit über den üblichen Normalzustand hinaus erweitert und auf diese Weise möglich gemacht, was zuvor als unrealistisch abgetan wurde.
Nur: Zu viel von dem dabei mitschwingenden antiinstitutionellen Impetus können komplexe Demokratien nicht gut vertragen. Aufbruchsrhetoren in Permanenz halten Nationen nicht aus. Denn Charismatiker, diese insbesondere rednerisch begabten Tribunen, sind keine verlässlichen Praktiker des Tagesgeschäfts. In dieser Sphäre richten sie häufig Unordnung an, hinterlassen nicht selten einen Scherbenhaufen. Auf den kurzen Freiheitsfrühling der Charismatiker folgt daher unweigerlich ein langer Herbst der disziplinierten und disziplinierenden Organisatoren.
Überdies: Häufig genug agieren Charismatiker, zumal ohne realpolitische Einbindung und Ambition, wie säkularisierte Religionsstifter; ihre Adressaten führen sich wie im Taumel von Glaubensgemeinschaften auf. Nun gibt es keinen populären Politpropheten, der für jede Zeit taugt und gleichsam natürlich Resonanz findet. Die Aura, die befristet ist, wird der Person von den Zuhörern, Schülern und Anhängern zugeeignet. Insofern sagt die besondere Wirkung des politischen Messias in erster Linie etwas über Furchtsamkeiten, Bedrückungen, Sehnsüchte und Glaubensbedürfnisse in der jeweiligen Zeit einer Gesellschaft, die ihre Erwartungen verzweifelt wie hoffnungsvoll an den Heilskünder richtet.
Daher ist dieser Typus ganz und gar angewiesen auf den Moment, in dem zuvor selbstverständliche Legitimationsfundamente zerbrechen, traditioneller Trost und überkommene Verheißungen nicht mehr wirken, die gewohnten Orientierungsmuster den Alltag nicht mehr sinnvoll zu strukturieren vermögen. Dann kommen die neuen Erlösungsfiguren mit ihren Großversprechen zum Zuge. Zuvor hat man sie, soweit überhaupt wahrgenommen, oft als schräge Sonderlinge abgetan. Und ist ihr Kairos vorbei, erlischt auch wieder ihre Strahlkraft; es wird einsam um sie. Nachfolgenden Generationen ist kaum noch verständlich zu machen, warum diese Figuren irgendwann einmal Rausch und Euphorie erzeugen konnten. Jahre später erscheint vieles lediglich bizarr, wie Hochstapelei eines durch das Land getourten Gurus.
Charismatiker treten gern in der Pose des Wunderheilers auf, da sie in schwierigen Zeiten Hoffnungen wecken und Anhänger sammeln. Doch spätestens wenn das Mirakel ausbleibt, werden sie als Scharlatane von den sodann enttäuscht-wütenden Anhängern mit Schimpf und Schande davongejagt. Der warme Zauber des Anfangs und die kalte Ernüchterung im Abgang bilden eine offenkundig unvermeidliche komplementäre Einheit im charismatischen Auftritt der Politik. Denn weit kommt man mit diesem Anspruch auf dem Terrain komplexer Verhandlungsdemokratien in der Regel nicht. Der angekündigte Befreiungsschlag bleibt letztlich aus, verheddert sich im dichten Flechtwerk der zahllosen innenpolitischen Vetomächte des föderalen und transnationalen Gestrüpps. Die historische Sendung des Politpropheten findet kaum ihren erfolgreichen Schlussakt. Das politische Pfingsten geht jäh in den prosaischen Alltag über. Der Zauber währt nur eine kurze Zeit. Es will partout nicht gelingen, dem charismatischen Flair Kontinuität und Dauer zu verleihen. Der Prophet und seine Jünger erschlaffen. Zurück bleibt Katerstimmung.
Meistens jedenfalls. Nur ganz wenigen Politikern von Vision und Emotion ist es gelungen, die sich verschleißende charismatische Ressource der Macht rechtzeitig durch Fertigkeiten für die Mühen der Ebene, für das nüchterne Management von Strukturen, Organisationen und Institutionen zu ersetzen. Denn wer verfügt schon über beide, recht disparate Basistugenden aus dem politischen Begabungsspektrum?
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.