[kommentiert]: Franz Walter über das schwierige Verhältnis von Wissenschaft und Fakten
Das aufgeklärte Deutschland – dem „die deutliche Unterscheidung von gesicherten Wissen und persönlicher Meinung nicht gleichgültig ist“ – macht mobil für den Primat von Fakten und marschierte am Wochenende gegen „alternative Fakten“, durch welche, wie es im Aufruf hieß, „wissenschaftlich fundierten Tatsachen geleugnet, relativiert“ würden.[1] Der Antrieb für dieses Engagement ist aufgrund der antiliberalen Konterreformen auch in gewichtigen Teilen der demokratisch-parlamentarischen Welt und die neue Geringschätzung für freie Forschungen unzweifelhaft richtig und fraglos löblich. Und doch konsterniert der bei einigen Protagonisten mitschwingende nahezu sakrale Glauben an den uneingeschränkt zu akzeptierenden Anspruch auf Objektivität im professionellen Wissenschaftsbetrieb. Gerade in Deutschland hat man erleben können, welche zivilisationszerstörerischen Versuche in wissenschaftlichen Experimenten (nicht zuletzt der Medizin) unternommen wurden und sich dann als Leitwissenschaften (etwa die nicht erst 1933 etablierten Lehrstühle zur „Rassenhygiene“, deren Inhaber nach 1945 höchst reputierlich als ordentliche Professoren für Humangenetik ihre Arbeit auch deutschlandweit und forschungsgemeinschaftlich fortsetzten) gesellschaftlich und politisch barbarisch auswirkten. Hier hätte ein wenig Distanz und couragierte, humanitätsbasierte „persönliche Meinung“ außerordentlich gut getan. Zumindest wäre vor und bei künftigen Märschen auch über solche Deformationen zu reden. Die Überzeugungskraft der Aktionen würde sich wohl mehren.
Im Institut, das diesen Blog betreibt, hat man die Problematik der höheren Weihen des „Stands der Wissenschaft“ und seine gesellschaftliche Folgen in mehreren Studien auf bedrückende Weise erfahren. Daher soll ein Beispiel hier noch mal geschildert werden. Es ging um die Pädophiliedebatte, die im Jahr 2013 so viel Wirbel im Umfeld der Partei der Grünen ausgelöst hatte.[2] Pädophile Apologie in der Frühzeit dieser Partei konnte sich mit einigen guten Gründen auf eben den „Stand der Forschung“ berufen, der in den 1960er und 1970er Jahren gleich in vielen Bereichen des wissenschaftlichen Spektrums herrschte. Geradezu das Kristallisationsereignis hierfür war eine Anhörung des Deutschen Bundestages vom 23.-25. November 1970 zum Entwurf für ein Viertes Strafrecht-Änderungsgesetz, in dem es auch und wesentlich über sexuellen Verkehr von Erwachsenen mit Kindern und die künftige juristische Regelung dazu ging. Gut 30 Experte vorwiegend aus Universitäten waren geladen und nach Bonn gekommen. Die Veranstaltung spiegelte den Geist jener außerordentlich wissenschaftsfreundlichen Jahre trefflich wider. Die exekutive Politik drängte geradezu nach wissenschaftlicher Beratung, nach der Expertise von Hochschulprofessoren. Auch Vertretern solcher Wissenschaften, die bis dahin den klassischen Honoratiorenpolitikern eher als suspekt galten, wurde nun interessiert zugehört: Soziologen, Kriminologen, Psychoanalytiker, Jugendpsychologen, natürlich auch Juristen ebenso wie Theologen, aber ebenfalls Sexualwissenschaftler.[3]
Zumindest im Blick zurück mutet der Verlauf des Expertentreffens allerdings bizarr an. An allen drei Tagen wurde fortwährend das hohe Lied der Wissenschaft gesungen. Dass die Ergebnisse sorgfältiger empirischer Forschungen die Basis auch der Juristerei bilden müssten, forderten die Soziologen, postulierten die Psychologen, verlangten die Pädagogen, reklamierten die Mediziner. Man war an diesen Novembertagen auch erkennbar in eigener Sache unterwegs, wenn mehr staatliche Unterstützung für Resozialisierung, Sexualaufklärung und -unterricht, weitere Studien in der universitären Forschung angemahnt wurden. So war es früher, so ist es heute. Die Politiker erwiesen den Professoren und Doktoren im Ausschuss denkbar freundlichste Reverenz. Merkwürdig allerdings war, dass auf jeden selbstbewussten Anspruch der Wissenschaftler sogleich deren kleinmütiges Eingeständnis folgte, auf all die Fragen der Parlamentarier mangels hinreichender Studien doch keine finalen oder auch nur halbwegs befriedigenden Antworten geben zu können. Der Ausruf „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht“ von der Soziologin Helge Pross stand gewissermaßen stellvertretend für die riesigen Erkenntnislücken der anwesenden Sachverständigen, die gleichwohl ihrer Expertise den höchsten Rang für die Gesetzgebungsprozesse zugewiesen bekommen wollten.
Selbstbewusster und forscher als jede andere Gruppe traten die Sexualwissenschaftler auf. Sie sahen keinen Anlass für die Bekundung, irgendetwas nicht zu wissen. Ihr Fach hatte in den letzten Jahren durch die sexuelle Liberalisierungswelle einen für sie höchst erfreulichen Aufwind genommen. Sie konnten mit frischen, noch nicht veröffentlichten Befragungen zum Sexualverhalten aufwarten. Der junge, gerade dreißig Jahre alte Volkmar Sigusch, bald Leiter eines neu gegründeten Instituts an der Frankfurter Universität, ein auch in den folgenden Jahrzehnten unzweifelhaft produktiver Mann, genoss es ersichtlich, den Vertretern des Ausschusses über die sexuelle Permissivität, die unter den Jugendlichen um sich gegriffen habe, zu dozieren. „Ich darf jetzt hier“, so Sigusch, „einmal narzisstisch sagen: wir waren die ersten, die derartige Untersuchungen gemacht haben.“ Erst im Zuge der weiteren Befragung sah auch Sigusch sich zögerlich und missmutig genötigt, zuzugeben, dass die Erhebung Repräsentativität nicht beanspruchen konnte, dass es an Langzeituntersuchungen nach wie vor mangelte. Sigusch machte auch in seiner weiteren Karriere ehrlicherweise keinen Hehl daraus, dass er vermeintliche Objektivität nicht anstrebte: „Das Fach“, teilte er einer Journalistin in einem Gespräch zu seinem 70. Geburtstag mit, „ist durch und durch subjektiv, man muss den eigenen Standort eingestehen“.[4]
Als Antipode zu Sigusch trat gewissermaßen der Stuttgarter Theologe und Psychoanalytiker Rudolf Affemann auf. Er, ein entschieden konservativer Mann, war die umstrittenste Figur, ein rotes Tuch auch für die sozialliberalen Abgeordneten. Länger als er wurde niemand sonst dort ins Kreuzverhör genommen, seine Wissenschaftlichkeit, gar seine Übereinstimmung mit dem Grundgesetz und der Demokratie der Bundesrepublik in Zweifel gestellt. Affemann hatte dem Gros seiner Mitreferenten, vor allem jenen aus den Sexualwissenschaften vorgeworfen, mit verfehlten Methoden zu operieren, auf diese Weise auch zu Ergebnissen zu kommen, die ohne allen Erklärungswert wären. Im expliziten Anschluss an Sigmund Freud verortete Affemann sechs Siebtel des menschlichen Seins unter der Oberfläche, also im Unbewussten der einzelnen Subjekte. Befragungen – wie sie bis dahin von der Wissenschaft durchgeführt wurden – aber zielten auf das Bewusstsein, das in die Tiefenschichten vor allem des sexuellen Begehrens gar nicht durchdringe. „Damit werden die ganzen Ergebnisse der Sexualpsychologie und Sexualsoziologie, die sich auf Befragungen des Menschen gründen, fragwürdig bis hinfällig.“ Überdies müsse man besonders im Bereich des Sexuellen in den Dimensionen der langen Dauer denken und forschen. Merkwürdigerweise war Affemann 1970 der einzige Experte, der diesen Aspekt mit Nachdruck hervorhob und Schlussfolgerungen daraus zog, die gänzlich quer zur Mehrheitsmeinung des Hearings lagen: „Sexuelle Verbildungen, die z. B. im zweiten Leben erfolgten, konnten unter Umständen über Jahrzehnte hinweg nicht nur unbewusst gehalten, sondern gerade, in den Dienst gesellschaftlicher Anpassung gestellt, zu einer scheinbar erhöhten Normalität führen. Erst in einer Belastungssituation – beispielsweise nach dreißig Jahren – schlägt jene Verbildung einen anderen Weg ein und verursacht etwa statt Ehrgeiz Krankheitssymptome der Hemmung.“ Aus diesem Grunde war Affemann zurückhaltend, was die Verflüssigung der Schutzrechte für Kinder und Jugendliche anging. Niemand kenne die Langzeitfolgen.
Die anderen Wissenschaftler gaben sich ihrer Position sicherer. Dabei gab nahezu jeder Einzelne zumindest in Nebensätzen zu, dass es für eine solche Sicherheit des Auftritts wenig Grund gab. „Sichere Erkenntnisse über Ursachen der Sexualkriminalität liegen bis heute nicht vor“, begann etwa der Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp, ab 1971 Ordinarius in Tübingen, sein Referat. Der Frankfurter Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich sprach von „Wissensrückständen“ in der Bundesrepublik. Und die Hamburger Professorin für Jugendpsychiatrie, Thea Schönfelder gab unumwunden zu: „Was ich sage, sind schlichte Vermutungen, um es mal krass zu formulieren.“ Dennoch wagte sie gegenüber dem Ausschuss die Annahme, dass Sexualität mit Kindern in einem ansonsten unauffälligen Milieu – ohne Gewaltanwendung – keine nachhaltigen Störungen der Persönlichkeitsentwicklung nach sich ziehen dürfte. Reinhart Lempp brachte es fertig, in einem Satz ein komplettes empirisches Defizit zu konstatieren, um gleichwohl im unmittelbar folgenden Satz einen gutachterlichen Befund über die Wirkung von „gewaltfreien“ sexuellen Handlungen von Erwachsenen an oder gegenüber Kindern darzulegen: „Objektive Untersuchungen an größeren Zahlen liegen nicht vor. Insgesamt muss die Wahrscheinlichkeit eines bleibenden psychischen Schadens als niedrig angesehen werden.“ Auf Nachfrage eines Abgeordneten bekräftigte Lempp, dass er die Strafwürdigkeit nicht-gewaltsamer Sexualhandlungen „zu verneinen“ neige. Dem schloss sich auch Alexander Mitscherlich an, der den Begriff „Sexualkriminalität“ auf Tatbestände, in denen Gewalt eine Rolle spielt, beschränkt sehen wollte.
Und es ging so weiter auf dieser seinerzeit viel beachteten wissenschaftlichen Expertenveranstaltung. So etwa beim Kieler Rechtsmediziner Wilhelm Hallermann, der noch ein Stückchen mehr als das Gros seiner Mitreferenten über alle Zweifel erhaben war, da er die Anwesenden belehrte, dass sexuelle Handlungen eines Erwachsenen an einem Kind keine nennenswerten Schäden hervorrufen würden. Selbst bei Sexualdelikten mit Gewaltanwendungen bräuchten „bei einem gesunden Kind“ keine Schäden aufzutreten. Die Verarbeitungskapazität eines „gesunden Kindes“ veranschlagte gleichfalls der Gutachter Eberhard Schorsch, der zwei Monate vor dem Hearing, nach dem Tod von Giese, zum Kommissarischen Leiter des Instituts für Sexualforschung an der Universität Hamburg ernannt worden war, als ziemlich hoch. Zwar gestand auch Schorsch, der bis zu seinem Tod 1991 einer der großen sexualforensischen Forscher und Gutachter der Republik war, ein, dass es „nur wenige methodisch stichhaltige Untersuchungen“ zu den Folgen kindlicher sexueller Erlebnisse gäbe. Doch äußerte er gleichwohl, sich gewiss zu sein, „dass Dauerschäden nicht zu beobachten“ wären, dass die Unschädlichkeit sexueller Attacken nicht-gewaltsamer Art auf Pubertierende als „wissenschaftlich bewiesen“ gelten müsste. Daraus zog er den Befund, der fortan von Ideologen der Pädophilie wieder und wieder triumphierend repetiert wurde: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nicht-gewalttätige sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen ohne negative Dauerfolgen.“
Mit einem Paukenschlag begann der letzte Tag der Anhörung. Denn nun betrat Helmut Kentler, Abteilungsleiter im Pädagogischen Zentrum Berlin, später dann Professor in Hannover die Expertenbühne. Natürlich hielt auch Kentler nicht viel von der Besorgnis, dass Sex zwischen Erwachsenen und Kindern für Letztere seelische Lasten bewirken könnte. Auf die vom Ausschuss vorgegebene Frage, in welchem Umfang es notwendig sei, die sexuelle Ausnutzung von Jugendlichen in einem Erziehungs- und Betreuungsverhältnis strafrechtlich zu unterbinden, hatte Kentler eine unmissverständliche Antwort. Für ihn existierte eine solche Notwendigkeit überhaupt nicht. Denn ihm dünkte es als „absolut unmöglich“, dass in Krankenhäusern, Gefängnissen, Heimen sexuelle Delikte passieren könnten, ohne publik zu werden. Mehr noch: Was sei überhaupt gegen sexuelle Beziehungen zwischen Betreuern und Betreuten zu sagen? Denn schließlich: „Erotische Elemente in Erziehungsprozessen sind sicher höchst wertvoll.“ Insgesamt vermutete er, „daß sexuelle Beziehungen im Berufsbereich oder in Bereichen der Erziehung heute weniger durch Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen als durch freiwilligen Entschluß der Jugendlichen zustande kommen.“ Überdies diene es der Ich-Stärkung, wenn man Kinder und Jugendliche „der Erfahrung recht gefährlicher Momente“ aussetze, statt sie mit Schonräumen zu entmündigen. Dem Gesetzgeber könne er nur empfehlen, die Finger aus all diesen sexuellen Beziehungen und Vorgängen herauszuhalten. Er plädierte für „völlige Straffreiheit“.
Im Grunde hätte kein Wissenschaftler eine generalisierbare Aussage machen dürfen. Aber sie taten es dennoch fortwährend! Sie waren einfach überzeugt, dass die Zeit der überkommenen sexuellen Tabuisierung abgelaufen war, dass man mit den moralisierenden Verboten in den vergangenen Jahrzehnten Glück zerstört, persönliche Freiheiten erstickt hatte. Doch durften sie gerade als Wissenschaftler so eilfertig die weitreichende Schlussfolgerung daraus ziehen, dass von anhaltenden negativen Wirkungen des sexuellen Verkehrs zwischen Erwachsenen und Kindern nicht auszugehen sei? Niemand verfügte über Langzeituntersuchungen (und besonders viele gibt es in den Sozialwissenschaften auch sonst in anderen Bereichen heute noch nicht); was also machte sie in ihrem Urteil so sicher? Konnte man 1970 wirklich nicht wissen, dass Sex etwa zwischen Volljährigen und vorpubertären Kindern auf denkbar disparaten Voraussetzungen und Willensentscheidungen fußte? Schließlich: Warum mieden die meisten in einer Zeit, da man – auch auf den drei Tagen der Anhörung – Sigmund Freud gerne im Mund führte, die Erörterung darüber, ob sexuelle Vorfälle dieser Art über lange Jahre im Verarbeitungsprozess des Unbewusstseins schwelten, was sich in schwer zu deutende Verhaltensweisen oder Deformationen transferieren konnte, bis das Leid in voller Wucht ausbrechen mochte?
Im Jahr 1989, zwei Jahre vor seinem Tod, hatte Eberhard Schorsch in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform einen Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich – wohl als Einziger der damaligen Sachverständigen – selbstkritisch mit seiner Stellungnahme vor dem Sonderausschuss des Deutschen Bundestages im November 1970 auseinandersetzte.[5] Vor allem ging es ihm um seinen damals vorgetragenen Satz: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nicht-gewalttätige sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen ohne negative Dauerfolgen.“ In den Jahren darauf hatte er irritiert feststellen müssen, dass die Ideologen der Pädophilie, die sich als Anwälte der Kinder und als Progressive gerierten, diesen Satz ständig in apologetischer Absicht benutzten. „Ich habe dies“, so Schorsch nun, „als Hinweis genommen, dass irgendetwas nicht stimmen kann.“ Nun, im Jahr 1989, war er überzeugt, dass sein Satz von 1970 „wenig Sinn“ ergab. Denn was bedeutete präzise ein gesundes Kind, eine intakte Umgebung, eine gewaltfreie Handlung? Schorsch gab zu erkennen, dass ihn gerade die Literatur und Selbstdarstellungen von Frauen, die Opfer sexueller Übergriffe in der Kindheit waren, beeindruckt und verändert hatten. „Dieses zu thematisieren und sexuelle Übergriffe von Männern auf Kinder innerhalb und außerhalb der Familie als massenhaftes, quasi alltägliches Phänomen zu deklarieren, war und ist ohne Zweifel ein Tabubruch, der dazu verholfen hat, sprachlosem Elend zur Sprache zu verhelfen. Die Empörung und die Wut in solchen Selbstzeugnissen zielt auch darauf, dass solche Vorkommnisse teils totgeschwiegen, teils verharmlost worden sind – und zwar nicht nur innerfamiliär; auch die Strafrechtspflege, die therapeutischen Institutionen haben die Opfer mehr oder minder übersehen und haben sich, wenn überhaupt, um die Täter gekümmert.“ Überdies: Was hieß schon ›gewaltfrei‹? „Gewalt ist Machtgefälle. Selbst der überaus liebevoll, jegliche Aggression verleugnende Pädophile wird in den Augen des Kindes allein durch sein Alter, sein größeres Wissen, seine überlegene Beurteilungsfähigkeit, ja schon durch die Ungleichheit der Körpergröße und -kraft als stark, imponierend und gewaltig wahrgenommen, was seine, des Starken Werbung um das kleine Kind nur noch verführerischer machen kann. All dies ist gar nicht hinwegzuargumentieren.“
Mitunter ist es mit „objektiven Forschungen“ vielleicht doch ein wenig schwieriger und ambivalenter, als derzeit im universitären Raum wieder angenommen wird. Im hier referierten Fall wäre (und war!) es wohl besser gewesen, nicht sehr viel auf den „Stand der Wissenschaft“ zu geben. Über Beispiele und Aporien dieser Art offen zu reden, könnte vielleicht die eine oder andere Verschwörungstheorie, die andernfalls genährt wird, vereiteln. Probleme und Grenzen der Wissenschaftlichkeit stattdessen auszublenden, wird hingegen dem grassierenden Misstrauen auch in Demokratien nicht entgegenwirken, eher im Gegenteil. Und autoritäre Regime wird man mit der gebieterischen Attitüde verbindlicher Forschungserkenntnisse nicht beunruhigen oder destabilisieren. Im 20. Jahrhundert neigten bekanntlich gerade solche Systeme dazu, ihre Ideologien als pure Wissenschaft ausgeben, um für sich absolute Wahrheit zu beanspruchen.
Ein Elixier von Demokratie dagegen ist die ihr inhärente Fähigkeit zur Korrektur von Einstellungen und Entscheidungen. Wissenschaft funktioniert sicher anders. Aber auch sie geht viele Pfade auf der Suche nach „Wahrheit“, verirrt sich, muss umkehren, innehalten, Pläne ändern, neue Wege gehen. Und ganz oft erreicht man nicht das, was Ziel und Abschluss sein sollte. Diese so anstrengenden wie beglückenden Zumutungen freier Forschung in ihrem nicht-stringenten, oft widersprüchlichen Charakter muss man in der Tat mit Zähnen und Klauen verteidigen. Doch zu dieser Freiheit gehören auch Skepsis und Einwand gegen zu forsch und rasch behauptete Objektivität.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.
[1] http://marchforscience.de/
[2] Vgl. hierzu Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel, Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2014.
[3] Siehe hierzu und im Folgenden: Der Deutsche Bundestag. 6. Wahlperiode, Stenographischer Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, Bonn 23, 24. und 25.November 1970.
[4] Siehe Ulrike Baureithel, Der Anti-Psychiater, in: Der Tagesspiegel, 10.6.2010.
[5] Eberhard Schorsch, Kinderliebe. Veränderungen der gesellschaftlichen Bewertung pädosexueller Kontakte, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 72 (1989), H. 2, S. 141-146.