„Wer links beginnt, endet liberal – und umgekehrt“

[Göttinger Köpfe]: Andreas Wagner über den Pädagogikprofessor Erich Weniger

Als der Göttinger Pädagogikprofessor Erich Weniger, einer der herausragenden Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ im Jahr 1933 seine Professur durch die Nationalsozialisten verlor, schien noch nicht absehbar, dass der Erziehungswissenschaftler nach 1945 beinahe nahtlos an seinen einstigen akademischen Werdegang würde anknüpfen können. Mehr noch, trotz seiner Tätigkeit als „Wehrmachtspädagoge“ und der Tatsache, dass er sich vom Nationalsozialismus keineswegs strikt distanzierte, baute Weniger bereits 1945 die Pädagogische Hochschule Göttingen auf und folgte ab 1949 seinem Mentor Herman Nohl als ordentlicher Professor der Pädagogik an der Georg-August-Universität Göttingen.

Weniger – als das älteste von sechs Pfarrerskindern – meldete sich mit 19 Jahren bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges freiwillig zur Artillerie. Nach seiner Rückkehr und erfolgreicher Promotion und Habilitation folgten akademische Stationen in Göttingen, Kiel und Frankfurt, wo Weniger 1933 zunächst entlassen, später aber als Studienrat wieder eingesetzt wurde. Trotz dieses Einschnitts erreichte er, dass er als NS-Führungsoffizier ab 1940 die Wehrmacht zu Forschungszwecken in den Niederlanden, der Sowjetunion und in Frankreich begleiten konnte.

Sofort nach Ende des Krieges wurde Weniger Direktor der Pädagogischen Hochschule in Göttingen und kehrte wenig später ganz an die Georg-August-Universität zurück, wo er bis zu seiner Emeritierung 1961 die Erziehungswissenschaften in Deutschland umfassend prägen sollte. Als Mitherausgeber unter anderem bei der führenden Zeitschrift für Pädagogik, als Militärpädagoge beim Aufbau der Bundeswehr sowie in zahlreichen Planungsgremien und Ausschüssen bewies Weniger eine so ausgeprägte Bereitschaft zu Teilnahme und Mitwirkung, dass ihm nachgesagt wurde, er kenne in diesem Bereich beinahe jeden Pädagogen in Deutschland von gewisser Bedeutung.

Erich Weniger; Foto: Stadtarchiv Göttingen

Als Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogikforderte Weniger eine Pädagogik, die  historische und systematische Strukturen berücksichtigt. Die Fachrichtung sah er als „Anwalt der Freiheit, der Mündigkeit und der Selbstbestimmung des jungen Menschens“. Für Weniger ging die politische Bildung vom Kinde aus, das „all seine schöpferischen Kräfte entfalten“ solle. Ziel könne es laut Weniger nicht sein, möglichst viele Daten und Fakten in einen Schüler hineinzupressen, im Vordergrund der Bildungsarbeit hatte vielmehr die Herausbildung einer „Persönlichkeit“ zu stehen. Damit befähige man den Menschen, eine eigenständige, selbst entscheidende Person zu werden. Insofern stellte die Hochschule für Weniger auch einen Ort dar, an dem das „Dienen für alle Schichten des Volkes“ und dessen „Vorbereitung für politische Mitverantwortung“ erlernt werden sollen. Der Pädagoge als lebendiges Vorbild der Schüler – für Weniger war das die Grundvoraussetzung seines erziehungswissenschaftlichen Anspruchs. Geradezu essentiell war für Weniger die „Betonung der gesellschaftswissenschaftlichen Komponente“ der Erziehungswissenschaften, die sich der Vermittlung und Verwebung „mit Wissenschaft, Gesellschaft und Politik“ zuwenden solle. Einem Postulat Jürgen Habermas´ folgend müsse „Pädagogik auf ihre Weise die Wissenschaft zu Ende (…) denken“.

Bei der Vermittlung pflegte Weniger einen ganz eigenen Stil des Geschichtenerzählens, wodurch man sich den Schülern nähern solle und diese zur Deutung etwa geschichtlicher Vorgänge befähige. Er eröffnete Seminare mit provokanten Diskussionseinleitungen, empfand Polemik als „Bedürfnis“ und verfügte generell über eine „kämpferische Mentalität“. Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki, der bei Weniger studierte, beschrieb Weniger als eine Person mit „protestantischem Eigensinn im Sinne einer bürgerlichen, verweltlichten Attitüde, verbunden mit staatskonservativen Vorstellungen“.

Dabei pflegte Weniger im Beruflichen wie im Privaten eine „vorgegebenen Ordnungsstruktur“, die sich streng am Leistungsprinzip orientierte. Obwohl er als „soldatisch zurückhaltender“ und distanzierter Wissenschaftler beschrieben worden ist, dem das gedämpfte Licht in der Bibliothek zum Schutz der Bücher mehr bedeuten konnte als der emotionale Kontakt zur Familie, war er umso fürsorglicher und hilfsbereiter bei der Betreuung in der Wissenschaft.

In der täglichen Erziehungsarbeit sah der „politischer Pädagoge“ dabei stets den Dualismus von pädagogischem und politischem Verantwortungsbewusstsein. Die Bildung war in Wenigers Konzept das Fundament von politischer Beteiligung. Dabei war eine gewisse „Mentalitätsstruktur“ Voraussetzung für eine gelungene Demokratie. Besonders im Hinblick auf die noch junge Bundesrepublik und die Wehrdienstdebatte der frühen 1950er Jahre betonte Weniger, wie wichtig die Aufarbeitung auch der militärischen Vergangenheit zur Demokratiewerdung sei.

Die Betrachtung seiner eigenen Vergangenheit spielte in der Nachkriegszeit eine untergeordnete Rolle. Bei der Entnazifizierung wurde er in einem langen Verfahren als „Entlasteter“ beurteilt, erst in jüngerer Vergangenheit sind Publikationen erschienen, die sich auch mit Wenigers Publikationstätigkeit während des Nationalsozialismus beschäftigen. Dabei ergibt sich ein zutiefst „nationalistisches, konservatives, autoritätsgläubiges, unkritisch-mystisches und soldatisch“ geprägtes und streng konservatives Bild, antisemitische oder rassistische Äußerungen verfasste Weniger jedoch nicht. Stattdessen war das Militär seit seiner Jugend stets Ort leistungsorientierter Prüfungen, bewundernswerter Selbstbestätigung und hierarchischer Ordnung. Die Diskontinuitäten der Argumentationen in Wenigers Werken während des Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik finden sich auch bei anderen Erziehungswissenschaftlern, grundlegend war bei Weniger jedoch nicht die Pflege entsprechender Ressentiments, sondern die Hingabe an ein „mythisch überhöhtes Militär“.

So unnahbar und ernst Weniger in seinem universitären Wirken war, so unnahbar war er auch im familiären Umfeld. In der kinderlos gebliebenen Ehe übernahm seine Frau Elisabeth die Rolle der fürsorglichen und hilfsbereiten Instanz, galt als „Seele der Familie“. Die Nachbarskinder fanden zum distanzierten Wissenschaftler Weniger dennoch ihren ganz eigenen Zugang: Aufgrund seines ernsten Äußeren und seiner großen Statur nannten ihn die Kinder ehrfürchtig „Muskel-Erich“.

Andreas Wagner ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.