[analysiert]: Alex Hensel über den Einfluss der Piraten auf die etablierten Parteien
Lauscht man dem medialen Echo des Offenbacher Parteitags der Piratenpartei, ist dieses auffällig positiv. Nach dem Wahlerfolg in Berlin scheint die Piratenpartei auch auf Bundesebene auf dem Weg der politischen Etablierung zu sein. Der starre Blick auf einen möglichen Einzug in den nächsten Bundestag übersieht jedoch leicht ihre aktuellen politischen Potentiale: Die Partei wirkt auch außerhalb des Parlaments bereits als Motor für die Entwicklung von alternativen politischen Inhalten und für die Modernisierung der politischen Kultur. Die Ereignisse und Ergebnisse des Parteitags in Offenbach könnten nun den Erneuerungsdruck auf die etablierten Parteien nochmals erhöhen.
Zum einen beschlossen die in Offenbach angereisten Parteimitglieder eine Erweiterung des politischen Programms um Forderungen, die im klassischen Koordinatensystem der etablierten Politik als eher links oder sozialliberal gelten. Hier sind vor allem die Einführung eines bundesweiten Mindestlohns und eines bedingungslosen Grundeinkommens, der Abbau von Hartz-IV-Sanktionen, eine Eingrenzung von Leiharbeit, die Durchsetzung einer strikteren Trennung von Religion und Staat und einer liberaleren Sucht- und Drogenpolitik sowie das grundlegende Bekenntnis zu einem geeinten, aber demokratischen Europa zu nennen.
Wichtig hieran ist zweierlei: Auch wenn sich die Parteiführung der Piratenpartei auf rhetorischer Ebene dagegen verwehrt und ihren Charakter als „liberale Grundrechtspartei“ betont, ist festzuhalten: Die Piraten wildern mit dieser Programmausweitung nun deutlich stärker in thematischen Feldern und ideologischen Positionen, die traditionellerweise von den Grünen, der Linken und partiell bzw. früher einmal der SPD besetzt wurden. Damit ist als Konsequenz zu erwarten, dass die genannten Parteien versuchen werden, ihre eigenen Forderungen so weit wie möglich zu profilieren und zuzuspitzen, um weitere Wählerwanderungen zu den Piraten zu verhindern.
Zudem setzt die Piratenpartei vor allem mit der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) einen strategisch bedeutsamen Akzent: Denn die Forderung nach einem BGE ist in dieser Form bislang im Programm keiner der etablierten Parteien offiziell zu finden, wenngleich fast überall – v.a. im linken Spektrum – unter verschiedenen Schlagwörtern darüber diskutiert wurde. Indem die Piraten diese Forderung nun plakativ in ihr eigenes Programm aufnehmen, drängen sie die anderen Parteien dazu, in dieser Frage nachzuziehen. Insofern können die Piraten durchaus inhaltliche Neuerungen provozieren, unabhängig davon, ob sie im Bundestag sind, oder nicht.
Zum anderen entwickeln die Piraten neue Formen und Verfahren der politischen Organisation und Kultur. Wesentlich hierfür ist die Verschränkung von basisdemokratischen Prinzipien und der Nutzung digitaler Kommunikationstechnologien. Zwar hat die Piratenpartei schon seit geraumer Zeit einen weitläufigen digitalen Kommunikationsraum entwickelt, in dem ihrer Mitglieder gleichberechtigt an der innerparteilichen Willensbildung und Programmfindung mitarbeiten können. Auf bisherigen Parteitagen ist die Übersetzung der Ergebnisse in ein politisches Programm im Rahmen basisdemokratischer Prinzipien jedoch allzu oft misslungen: Die akkreditierten Mitglieder überhäuften sich vor Ort mit oft destruktiven formalen Anträgen; unsachliche Diskussionen polarisierten sich bis hin zur kollektiven Selbstblockade.
In Offenbach nun bewies die Piratenpartei einen gemeinsamen Lernprozess im Bereich der Basisdemokratie. Im Saal der Offenbacher Stadthalle diskutierten viele der rund 1300 anwesenden Parteimitglieder zwei Tage lang über eine Top-42-Liste von Anträgen und ihre Geschäftsordnung. Dabei wurde zwar heftig gestritten, auch polemisiert und polarisiert, doch ein Großteil der Tagesordnungsanträge konnte, und das war in der Piratenpartei bislang keineswegs selbstverständlich, produktiv verhandelt und beschlossen werden. Voraussetzung hierfür war eine effektivere Organisation und Koordination von Anträgen in digitalen Parteiforen im Vorfeld des Parteitags. Hinzu kommt eine transparente Auswahl aus der Flut von weit über 300 Anträgen, die den Interessensschwerpunkten der anwesenden Basis tatsächlich entsprach. Zudem wurde die Diskussion von der Parteibasis getragen, die Parteiführung spielte dabei kaum eine Rolle, was die innerparteiliche Legitimität des neuen Programms für die Zukunft sichert. Und auch unter den Teilnehmern des Parteitags selbst war ein erhöhtes Maß an Disziplin und Konsensorientierung zu erkennen.
Insgesamt hat die Piratenpartei auf dem Parteitag in Offenbach unter schärfster Beobachtung der Medien damit gezeigt, dass ihre alternative politische Kultur einer digitalen Basisdemokratie durchaus politisch handlungsfähig sein kann. Damit üben die Piraten eine weitere Form des Erneuerungsdrucks auf die etablierten Parteien aus, die in Fragen der Beteiligung von Mitgliedern mehr oder weniger starke Defizite aufweisen. Gleichzeitig scheint an dieser Stelle eines der stärksten Potentiale der Piratenpartei zu liegen. Denn ihre politische Kultur deckt sich nicht nur mit dem steigenden Partizipationsbedürfnis vieler Bürger, sondern ist von den anderen Parteien auch am schwierigsten zu kopieren.
Denn die digitale Basisdemokratie der Piraten basiert auf Voraussetzungen, die von anderen Parteien nicht per Knopfdruck erfüllt werden können: Zum einen bedarf digitale Kommunikation und Kooperation nicht nur einer technischen Struktur, sondern auch einer Reihe kultureller Fähigkeiten und echter emotionaler Akzeptanz. Zum anderen müssen die Prinzipien der Basisdemokratie von den Mitgliedern und der Führung einer Partei auch wirklich akzeptiert und produktiv umgesetzt werden, auch wenn sie anstrengend und trotz aller Fortschritte oftmals bislang weniger effektiv sind, als traditionelle Formen der Parteiorganisation.
Insofern ist zu erwarten, dass die etablierten kleineren Parteien, allen voran die Grünen, in Zukunft aber vermutlich auch verstärkt die Linken, weiter versuchen werden, ihre Rolle als inhaltlicher Innovator zurückzuerobern. Dies verlangt nicht nur die Angst vor weiteren Wählerwanderungen, sondern auch der gekränkte kollektive Stolz, als progressive Kraft und Innovator des Parteiensystems zumindest partiell abgelöst worden zu sein. Ob es den Grünen wie den anderen Parteien hingegen gelingt, den Piraten die Stellung als Vorreiter von neuen Formen der politischen Kultur und Organisation gleichzuziehen, ist momentan weiter fraglich.
Alexander Hensel ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Analysen zum Thema Piratenpartei finden sich hier.