Welche Demokratie fürs Dorf?

[kommentiert]: Johanna Klatt und Jonas Rugenstein über direktdemokratische Reformen in Dörfern und Gemeinden.

Die „Vertrauenskrise in die repräsentative Demokratie“ wird gemeinhin mit der großen politischen Bühne in Berlin assoziiert. Dabei ist sie ebenso in Kommunen, Gemeinden und Dörfern zu finden. Auch hier sinkt die Zustimmung zu den gewählten Vertreterinnen und Vertreter und Wahlbeteiligung, auch hier steigt der Wunsch nach mehr direkter politischer Beteiligung. Und: Die vielfach als Gegenmittel zur Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie geforderte Stärkung direktdemokratischer Verfahren böte sich gerade auf Dorf- und Gemeindeebene an.

Denn auf dem Dorf herrscht eben keine Politikverdrossenheit über abstrakte politische Fragen vor, sondern vielmehr direkte Betroffenheit. Politische Entscheidungen betreffen hier oft unmittelbar den engen Erfahrungsbereich der Menschen, sind Teil ihres Alltags und werden daher mit besonderem Interesse und Wissen verfolgt. Zusammen mit der Überschaubarkeit einer Gemeinde kann sich daher kaum jemand einer politischen Frage entziehen. Nahezu alle Menschen sind so aufgefordert, sich eine eigene Meinung zu bilden. Dabei spielt auch der engere Austausch in dörflichen Strukturen, durch Diskussionen in der Familie oder im Freundeskreis, eine wichtige Rolle.

Anders als auf der Bundesebene besteht in den Gemeinden und Bundesländern bereits die Möglichkeit zur direkten Mitwirkung der Einwohnerinnen und Einwohner an politischen Fragen. Vor dem Hintergrund der Barschel-Affäre in Schleswig-Holstein und der friedlichen Revolution in Ostdeutschland wurde Anfang der neunziger Jahre eine Vielzahl von neuen Beteiligungsmöglichkeiten eingeführt. So besteht seit der Reform der Niedersächsischen Gemeindeordnung von 1996 die Möglichkeit von Anregungen und Beschwerden, Bürger- und Einwohnerbefragungen, Bürgerversammlungen sowie Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden.

Der Anwendung dieser Verfahren stehen jedoch besonders in Niedersachsen noch vergleichsweise hohe Hürden im Weg. So sind bestimmte Fragen, wie die innere Organisation der Gemeindeverwaltung und Bauleit- und Wirtschaftspläne beispielsweise, von einem Bürgerentscheid bzw. Bürgerbegehren ausgeschlossen. Daneben sind mit einem Bürgerbegehren formelle Ansprüche verbunden: So muss ein Vorschlag beispielsweise immer einen Kostendeckungsplan enthalten, der nicht nur die Kosten für den geforderten Antrag, sondern ebenso alle Folgekosten umfasst.

Die größte Barriere stellt aber sicherlich das hohe Quorum für Bürgerentscheide von 25 Prozent dar. Dies bedeutet, dass neben einer Mehrheit der abgegebenen Stimmen 25 Prozent der insgesamt Wahlberechtigten für den Antrag stimmen müssen. Aufgrund dieser Anforderungen wird das Mittel des Bürgerbegehrens in Niedersachsen im Vergleich zu den anderen Bundesländern selten genutzt. So gab es im Zeitraum von 1996 bis 2007 in Niedersachsen lediglich 170 Bürgerbegehren, während in Bayern im selben Zeitraum 1472 Bürgerbegehren eingeleitet wurden. Niedersachsen hat damit im Vergleich zu vielen anderen Bundesländern in der Tat noch Einiges nachzuholen.

Ungeachtet dieses regionalen Nachholbedarfs ist die Lage bundesweit eindeutig: Selten war die Nachfrage nach zusätzlichen Einflussmöglichkeiten so groß. Und zwar gerade weil man den gewählten Vertretern in Parteien und Parlamenten zuletzt immer weniger zutraut und Politik lieber anders oder gleich „besser“ machen möchte. Die eigenen Fähigkeiten und Energien in eine Bürger- oder direktdemokratische Initiative zu stecken, kommt für viele politisch Interessierte eher in Frage, als private Zeit in einem Ortsverein zu verbringen. Ein Gedankenspiel, das gewissermaßen einer Abwärtsspirale des Politikerverdrusses Schwung gibt. Denn einerseits sind es die Mitgliederverluste der Parteien, die das geringe Vertrauen in die politische Klasse ausdrücken. Das gleiche gilt jedoch auch andersherum betrachtet. Dadurch, dass zurückgehende Mitgliederzahlen mit dem Verlust „lebensweltlicher“ Schnittstellen zwischen der Bevölkerung auf der einen und den Parlamenten und Räten auf der anderen Seite einhergehen, vermindern sie die Vertrauenswerte zusätzlich.

Früher hatte man im Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis immer einen politisch aktiven „Sozi“ oder Christdemokraten. Mit ihm mag man zwar nicht immer einer politischen Meinung gewesen sein. Doch bestand dadurch zumindest eine gewisse Nähe zur parlamentarischen Demokratie – mit dem Bekannten als Vermittler sozusagen. Heute sieht es anders aus. Gerade, wenn über die „richtige“ Form politischer Beteiligung debattiert wird,  stehen die Fürsprecher direkter Demokratie und die Repräsentanten der Parlamente und Räte einander häufig unversöhnlich gegenüber.

Dabei liegt womöglich, wie das so häufig der Fall ist, der beste Weg in der goldenen Mitte. Mehr noch als Bürgerentscheide, die auf eine spezifische Ja-Nein-Entscheidung hinauslaufen, könnten auf Kontinuität angelegte Beteiligungsverfahren wie beispielsweise Bürgerversammlungen der Krise der repräsentativen Demokratie auf dem Dorf entgegenwirken. Prozesse, die die Bürgerinnen und Bürger über einen längeren Zeitraum mit einbeziehen und wahrhaftige Mitentscheidungsrechte einräumen.

Zudem stellen die neuen technischen Möglichkeiten eine Chance dar, Gemeinde- und Ortsbeiräte weiter zu öffnen. So bietet es sich beispielsweise an, Sitzungsvorlagen vorab online zu stellen oder einfache Umfragemöglichkeiten einzurichten, um Entscheidungen der Gemeinden besser in die Öffentlichkeit zu transportieren und  „nur“ sporadisch Beteiligte mit einzubeziehen.

Die Wahl zwischen repräsentativer und direkter Demokratie muss daher keine Entweder-Oder-Entscheidung sein. Sinnvoll ist vielmehr ein Nebeneinander oder ein starker Austauschprozess, für die die unmittelbare Nachbarschaft der „Direkt-Demokraten“  und der „Repräsentativen“ im Dorf eigentlich optimale Voraussetzungen liefert.

Johanna Klatt und Jonas Rugenstein arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Anfang des Jahres waren sie  zu Gast in Groß Lengden, einem Dorf in der Nähe von Göttingen. Dort haben sie über die Frage „Welche Demokratie fürs Dorf?“ referiert.