Das Ostern der Intellektuellen

[analysiert]: Franz Walter analysiert den Einfluss intellektueller Berater auf die Kanzlerschaft  Willy Brandts.

Für keinen anderen Kanzler fanden Poeten, Filmemacher, Edelfedern und Maler in ihrer Mehrheit eine solche Zuneigung wie zu Willy Brandt. Sie bewunderten seine unbürgerliche Lebensgeschichte. Brandt war der Emigrant, während die anderen Spitzenpolitiker – und ebenso die Intellektuellen meist selber! – überwiegend in Wehrmachtsuniformen an den Eroberungsfeldzügen Hitlers beteiligt gewesen waren. Auch die proletarische Herkunft, die nicht-eheliche Geburt Brandts gefiel den linksliberalen Literaten, die sich gern über die Kleinbürgerlichkeit und Bigotterie der Adenauer-Ära beklagt hatten. Dass Brandt oft so verlassen wirkte, so in sich gekehrt, nachgerade schutzbedürftig, nahm sie ebenfalls für ihn ein.

Auch Brandt suchte die Nähe zu den Grüblern und Formulierern. In seiner zweiten Regierungsperiode nach den Bundestagswahlen 1972 holte er einige dieser Gattung in sein unmittelbares Umfeld, in das Kanzleramt. Zu einem ihm unverzichtbaren Gesprächspartner stieg  bis 1974 der Schriftsteller und Journalist Klaus Harpprecht auf. Brandt hatte Harpprecht kurz nach den Bundestagswahlen zum Kopf der „Schreibstube“, also zum Dirigenten der Kanzlerreden gemacht. Die wohl wirksamste politische Rede, die Harpprecht in seinem Leben schrieb, trug Brandt im Herbst 1972 auf dem Wahlsonderparteitag der Sozialdemokraten in Dortmund vor. Tatsächlich erzielte die Dortmunder Rede Brandts in einer gewissen Weise eine epochale Wirkung. Jedenfalls tauchten hier erstmals Begriffe auf, die man heute noch mit dem Abschnitt des sozialliberalen Aufbruchs, der Reformära Brandts verbindet. Und das hatte viel mit eben den Begriffsartistik  Harpprechts zu tun.

Harpprecht besaß eine feine Witterung für geistige Unterströmungen. Ihm war die Fähigkeit eigen, solche lebensgefühligen Mentalitätsflüsse einer Gesellschaft durch farbige Allegorien anschaulich zu machen, und: auf einen in der öffentlichen Kommunikation bestens verwendbaren, multiplizierbaren Begriff zu bringen. Durch die Dortmunder Parteitagsrede Brandts führte Harpprecht erstmals den Begriff „Compassion“ in die politische Debatte der Republik ein. Auch die „Neue Mitte“ ging auf den Meister der Schreibstube zurück. Und Brandts Versprechen von einer besseren „Lebensqualität“ war ebenfalls eine sprachliche Kreation seines Redenschreibers. Harpprecht und Brandt hatten mit diesen Sentenzen ein spezifisches Zeitgefühl der frühen 1970er Jahre gebündelt, in ein politisches Projekt übertragen und dadurch für große Gruppen der Gesellschaft auch langfristig Einstellungen fixiert. Eine geringe Leistung war das nicht.

Und doch traf man in Bonn auf nicht wenige Beobachter, die daran zweifelten, dass Harpprecht dem Kanzler gut tat, ihn wirklich bereicherte. Brandt formulierte, wenn er sich selbst – ohne alle Sekundanz – als Redner in Bewegung setzte, tastender, suchender, fast ungeschmeidig, was viele überzeugender fanden, da er dann unverkennbar bei sich war. Harpprecht hingegen glättete Disharmonien, hobelte die kantigen Stellen weg, strebte nach dem funkelnden Aperçu. Harpprecht liebte die Sprache Thomas Manns, um das politische Publikum zu entzücken, zu betören.

Als „Denkmalpfleger“ des Kanzlers galt vielen Beobachtern in Bonn damals ebenfalls der zweite Intellektuelle in der Regierungszentrale, Günter Gaus, zuvor Chefredakteur beim „Spiegel“; dazu kam schließlich noch Egon Bahr. Gaus war ein scharfsinniger Mann, ein brillanter Analytiker mit interessanten, jederzeit originellen Überlegungen zur Politik. Aber er zeigte nur geringe Geduld mit Menschen, die nicht gleichermaßen interessant und scharfsinnig waren. Takt, Großzügigkeit und Milde gehörten nicht zu den Gaben dieses Mannes mit dem strengen, spitzen Gesicht und seinen oft kühlen Verdikten. Und er rivalisierte durchweg mit Harpprecht, was im Kanzleramt fortwährend für böses Blut sorgte. Hilflos und verzweifelt fast mahnte der Kanzler sein intellektuelles Umfeld immer wieder, sich doch bitte, ja bitte zu vertragen und miteinander zu kooperieren. Aber das wollten oder konnten die intellektuellen Individualisten nicht, von denen sich eben jeder für den Klügsten und Geistreichsten hielt und darunter litt, wenn ein anderer ungebührlich lange mit dem Kanzler parlierte. Es war wohl so: Am Ende seiner Kanzlerschaft umgab sich Brandt zu sehr mit Leuten, welche die Pflege seines Denkmals betrieben.

Denn schließlich und zudem hatte der Kanzler sein Amt nahezu systemwidrig organisiert. Eifersüchteleien und Rivalitäten zwischen Höflingen waren an sich nichts Besonderes. Im Umfeld der politischen Macht bedeutete dies eher die Regel als die Ausnahme. Auch in den Küchenkabinetten anderer Kanzler finden wir persönliche Fehden und Konkurrenzen. Wichtig war dann, dass die formalen Entscheidungs- und Hierarchiestrukturen für Ordnung und Verbindlichkeit in dem sonst drohenden Chaos des Jeder-gegen-Jeden sorgten. An einer solchen eindeutigen Hierarchie aber fehlte es im Kanzleramt nach dem Wahlsieg von 1972. So blieben die wichtigsten Berater des Kanzlers 1973/74 eine lose Ansammlung intellektueller Individualisten. Es existierten kein Dirigent und keine klare Orchesterstruktur, die aus begabten Solisten einen harmonisch klingenden, gemeinschaftlichen Chor hätte machen können.

Vor allem: Die Solisten waren ihrem Kanzler von Temperament und Mentalität zu ähnlich. Brandts große Stärke war die weite politische Perspektive, der Zukunftsentwurf, auch die Wertefundamentierung von Politik. Brandt dachte in großen internationalen Zusammenhängen, diskutierte mit Vorliebe über europäische Friedensordnungen oder eine gerechte Weltwirtschaftsstruktur. Brandt beschrieb seine politischen Ziele vom Jahr 2000 her, nicht aus den Gegenwärtigkeiten des Jahres 1973 heraus. Zwischen 1968 und 1972 traf er mit diesem politischen Ansatz den Geist der Zeit in den jungen und mittelalten akademischen Mittelschichten. Damit öffnete Brandt, öffneten auch seine semantischen Schreib- und Wortartisten die Sozialdemokratie für neue Wählerkreise, hoben sie über die klassische Facharbeiterschaft hinaus, in das Bildungsbürgertum hinein. Das hatte die SPD vitalisiert, modernisiert und schließlich mehrheitsfähig gemacht. Das war eine zweifellos historische Leistung Brandts.

Aber 1973 suchte die Republik nach pragmatischen Antworten auf die vielen Widrigkeiten, Probleme und Krisen, die das Land neuerdings belasteten: die Inflation, der Erdölschock, die Fahrverbote, der Fluglotsenstreik, die Vorboten der Massenarbeitslosigkeit. All das war Brandt eher lästig. Ihn faszinierte der weite Blick, nicht das Klein-Klein des politischen Alltags mit den taktischen Winkelzügen und zähen Verhandlungen in Gremien, Ausschüssen, Kommissionen. Brandt machte auch das diszipliniert mit; aber inmitten solcher Sitzungen konnte er plötzlich geistig wegtauchen, sich innerlich abmelden, den Blick starr auf einen imaginären Punkt gerichtet. Sein Gesicht wandelte sich dabei zur Maske. Auch die Depressionen, die Brandt sich von Zeit zu Zeit nahm, waren Vehikel der Flucht und des Ausstiegs. Seine neuen intellektuellen Getreuen ließen Brandt in seiner Schwermut, seiner Introversion, seiner Versunkenheit. Sie stärkten ihn darin eher, partizipierten an den sinnigen Grübeleien, am Zustand der Transzendenz. Niemand drängte Brandt noch zur Handlung, zur energischen Tat. Doch gute Berater in der Politik dürfen so nicht sein. Sie dürfen ihren politischen Helden nicht doppeln oder spiegeln. Sie müssen sich von ihm unterscheiden, müssen ihn mit eigenen, differenten Begabungen ergänzen, erweitern, korrigieren und ausgleichen. Daran fehlte es im Umfeld des Kanzlers in den Jahren 1973/74.

Nun war es in der Tat nicht ganz einfach mit Brandt. Gewiss, er war ohne Zweifel ein guter Zuhörer, nicht aufbrausend, nicht besserwisserisch wie zuweilen Schmidt. Brandt war für neue Informationen und Deutungen offen und lernbereit. Insofern war es angenehm, für ihn zu arbeiten. Auch lockerte er in Gesprächsrunden Spannungen immer dadurch auf, dass er einen seiner vielen Witze erzählte, über die er – glucksend und gluckernd noch vor der eigentlichen Pointe – stets selber am meisten lachte. Seine Leute mochten das an ihm, ertrugen daher auch, dass sie etliche Anekdoten des Kanzlers nicht nur einmal zu hören bekamen. Mit mehreren seiner Zuarbeiter war Brandt auch auf „Du“ und „Du“. Und doch kam keine allzu intime Vertraulichkeit auf. Brandt hielt immer auf Distanz, ließ niemanden zu weit an sich heran, zeigte sich sofort verschlossen, verweigerte Zugang und auch Zuneigung. Brandt hatte enge Vertraute, glühende Anhänger, ja gläubige Fans und Apostel – aber Freunde? Brandt war, so urteilten Viele, die ihn kannten, zur Freundschaft nicht fähig. Das allein unterschied ihn nicht von anderen Kanzlern. Macht und Freundschaft scheinen sich schwer zu vertragen. Doch Brandt neigte stattdessen stark dazu, für Schmeicheleien empfänglich zu sein. Zumindest in seiner zweiten Regierungsperiode umgab er sich zu sehr mit Leuten, die die Pflege seines Denkmals betrieben. Besser aber wäre es gewesen, wenn seine Vertrauten ihn aus den glitzernden Höhen einer nahezu sakralen Friedenskanzlerschaft in die rauen Niederungen einer zunehmend schwierigeren Regierungspolitik zurückgeholt hätten.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.