[kommentiert]: Franz Walter über die politische Bedeutung der Weihnachtspause
Endlich rücken die Weihnachtsferien näher. Das wird sich in diesen Tagen mancher Parteiaktivist beruhigend zuflüstern. Es war ein hartes Jahr für sie. Im Saarland, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Niedersachsen hatten sie 2017 gar zwei Wahlkämpfe über Wochen und Monate auf Marktplätzen und vor Einkaufszentren, bei Kaffee und Kuchen in Seniorenheimen und auf Podien in irgendwelchen Sälen zu bestreiten. Überdies ziehen sich seither die Koalitionsbildungsprozesse quälend lang hin. Nicht mal Neuwahlen in den nächsten Monaten sind gänzlich auszuschließen. Kurzum: Man mag es den Politkampagneros schon ein bisschen gönnen, zwischen Weihnachten und Neujahr abzuschalten, mal nichts vom ganzen politischen Zirkus hören zu wollen, erst recht nicht darüber reden zu müssen.
Doch ratsam wäre ein solches Verhalten nicht. Zumindest hatte die mittlerweile in ihrer Zunft ebenso legendäre wie höchst umstrittene Dame der Meinungs- und Einstellungsforschung, Elisabeth Noelle-Neumann, zum Ende ihres Lebens auf die enorme Bedeutung der Weihnachtspause für das Meinungsklima in der Republik hingewiesen. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war das von Noelle-Neumann geleitete Allensbacher Institut für Demoskopie darauf gestoßen, dass sich zwischen den Festtagen 1995/96, 1996/97 und schließlich 1997/98 entscheidende Schübe für eine neue sozialdemokratische Mehrheit vollzogen. Jeweils um drei bis fünf Prozentpunkte nahmen in diesen knappen Zeiträumen die Sympathiewerte für die SPD damals des Oskar Lafontaine zu, die dann im September 1998 stärkste Partei im Bundestag wurde und den Kanzler stellte.
Einen solch formativen Charakter konnten die eigentlich wenigen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr einnehmen, weil in dieser Woche das Volk zur Ruhe kam und innerfamiliär dicht beieinander hockte, über ungewöhnlich viel Zeit und Raum für ausgiebige Gespräche im Kreis der Lieben und Verwandten verfügte. Hier baute sich, so die Interpretation der Allensbach-Chefin, in den bundesdeutschen Wohnzimmern an und zwischen den Festtagen eine Mehrheit für die Lafontainsche Sozialkritik an der christdemokratisch-liberalen Bundesregierung im Spätherbst der Kohl-Ära auf. Die Deutschen saßen zusammen und bestätigten sich gegenseitig ihr Unbehagen an der Renten- und Gesundheitspolitik des Bundeskabinetts, wetterten über die soziale Kälte und zunehmenden Ungerechtigkeit im Land und fanden überhaupt, dass längst üppigere Gehalts- und Lohnzuwächse dem Gabentisch unterm Weihnachtsbau nicht schlecht getan hätten. Elisabeth Noelle-Neumann, gute Freundin, Beraterin und Bewunderin von Helmut Kohl, konkludierte daher eher mürrisch als begeistert: „Die Bundestagswahl 1998 ist tatsächlich in drei Jahren, drei Schritten in den Wochen zwischen Anfang Dezember und Mitte Januar (für die Sozialdemokraten, d.V.) gewonnen worden.“[1] Und sie traute Herrn Lafontaine zu, dies alles kühl geplant und Zug um Zug so umgesetzt zu haben.
Für die Weihnachtspause 2001/2002 registrierten die Allensbacher erneut einen weitgehenden Einstellungswechsel bei den Deutschen. Diesmal vollzog er sich in der Haltung zum Euro. Ende 2001, unmittelbar vor dem Weihnachtsfest und der Einführung des die Deutsche Mark substituierenden Bargeldes, begrüßten nur 31 Prozent der Bürger die neue europäische Währung; 42 Prozent sprachen sich gegen das künftige Zahlungsmittel aus. In den Weihnachtstagen beherrschte der Euro dann „wie kein anderes Thema“[2] die Gespräche in der Familie, bei Familien- Verwandtenbesuche. Nach Weihnachten, im Januar 2002, war der Anteil der Euro-Gegner auf 19 Prozent geschrumpft, die Quote der Befürworter auf 61 Prozent hochgeschnellt, was – so darf man wohl hinzufügen – auch mit ersten Gewöhnungseffekten zu erklären gewesen sein mochte.
Mit besonderen Einflüssen der Medien, für die gerade dieser Zeitraum bekanntlich eine Sauregurkenzeit darstellt, hatten solche Neuorientierungen zumindest nichts zu tun. Den angeblich überragenden Einfluss von medialem Agenda Setting hielten die Allensbacher sowieso für überschätzt. Besonders Noelle-Neumann hob demgegenüber die ausschlaggebende Rolle von „Meinungsführern“ hervor, die in allen Milieus – also keineswegs ausschließlich bei den sozialen und kommentierenden Eliten – existieren, sich mittels Artikulationsfreude wie überdurchschnittliche Informiertheit exponieren und als Multiplikatoren in ihren Lebenswelten prägend etwa auf Wahlentscheidungen Einfluss zu nehmen vermögen. Denn nichts ist wirksamer als der persönliche Gesprächskontakt. Daher sei es besonders vielversprechend für Politiker, „die Meinungsführer persönlich, ohne den Umweg über die Massenmedien, anzusprechen. Jeder überzeugte Meinungsführer reißt drei, vier weitere Personen in seiner Umgebung mit. Hinzu kommt, dass die Meinungsführer auch untereinander Kontakte pflegen. Auf diese Weise zieht jeder persönliche Kontakt zu einem Meinungsführer weite Kreise.“[3]
Also sollten die Meinungsführer aus den Lebenswelten mit starken Affinitäten zu einer politischen Richtung vielleicht besser nicht in gut einer Woche, zwischen dem 24. Dezember und dem 1. Januar, völlig abschalten und politische Absenz zeigen. Gerade in der verworrenen, politisch blockierten Situation zum Ende des Jahres 2017, da die Würfel der Macht noch nicht gefallen sind, käme es etwa bei den Christ- und Sozialdemokraten auf überzeugte, zielklare Kommunikatoren und Multiplikatoren an, die ein wenig Bewegung in die verfestigte, zugleich aber ziellose Orientierungslage der deutschen Gesellschaft bringen könnten. Nur: Gibt es diesen Typus insbesondere im Umfeld der früheren Volksparteien noch hinreichend, den sprachfähigen Aktivisten oder die Aktivistin, der/die im Kern von der Überlegenheit der Programmatik seiner Formation überzeugt ist, der/die mit leidenschaftlicher Energie für deutlich beschriebene Ziele eintreten kann, jederzeit ein einleuchtendes Zukunftsprojekt vor Augen? Denn wie soll er/sie das noch können, wo doch solche Projekte und Vorgaben in der parteipolitischen Arena nach der langen Ära eines begründungs- und bilderlosen Pragmatismus gar nicht mehr existieren? Und solange das so bleibt, können sich die politischen Deutungen und Präferenzen im Sockelbereich der Lebenswelten auch in der Weihnachtszeit nicht konstruktiv verändern. Zu neuen Meinungsführern avancieren in diesem geistigen Vakuum seit einiger Zeit stattdessen diejenigen, die pure Verachtung und aggressive Distanz gegenüber dem etabliert Politischen, dessen Repräsentanten nicht einmal eine handlungsfähige Regierung zustande bringen, vervielfältigend äußern – und dies gewiss auch an den besinnlichen Tagen bei Gänsebraten und Weihnachtsplätzchen nicht unterlassen werden.
Franz Walter ist der ehemalige Direktor des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.
[1] Elisabeth Noelle-Neumann, Die Weihnachtspause, in: FAZ, 24.01. 2001.
[2] Dies., Nach der Einführung des Euro wechselt das Meinungsklima, in: FAZ, 30.01. 2002.
[3] Elisabeth Noelle, Wahlkampf der Meinungsführer, in: FAZ, 14.08. 2002.