Warten auf den Star

[kommentiert]: Teresa Nentwig hat den Wahlkampfauftritt von Angela Merkel in Duderstadt beobachtet.

Am Nachmittag des 16. September findet eine kleine Völkerwanderung statt. Von den extra als Parkplatz freigegebenen Wiesen machen sich Hunderte Menschen zum Gelände des Orthopädie-Konzerns Ottobock in Duderstadt auf, um Angela Merkel einmal live zu erleben. Die meisten von ihnen sind mit Schirmen bewaffnet, denn kurz zuvor regnete es noch in Strömen. Aber mittlerweile scheint die Sonne und all die dicken, dunklen Wolken haben sich verzogen. Selten sorgen Wahlkampfauftritte von Politikern schon im Voraus für Diskussionen – der in Duderstadt fällt jedoch in diese Kategorie.

Nachdem der Inhaber des Unternehmens Ottobock, Hans Georg Näder, der CDU Anfang Juli dieses Jahres 100.000 Euro gespendet hatte, stellte die Duderstädter Ratsfraktion der Grünen in einem offenen Brief an Angela Merkel Fragen zur Unabhängigkeit der Politik von der Wirtschaft. Daraufhin betonte der Göttinger CDU-Kreisverband, dass Merkels Auftritt in Duderstadt eine öffentliche Veranstaltung der Partei sei und die Auswahl des Veranstaltungsorts für den Wahlkampftermin nichts mit der 100.000-Euro-Spende Näders zu tun habe.

Auch Näder meldete sich umgehend zu Wort. Er habe die Fläche auf seinem Firmengelände angeboten, die CDU habe akzeptiert. Veranstalterin des Wahlkampfauftritts sei die Partei, die zudem eigens einen Parkplatz angemietet habe. Es handele sich daher auch nicht um eine Visite beim Unternehmen. „Einen Besuch der Bundeskanzlerin bei Ottobock gab es ja schon“, so Näder mit Blick auf einen Besuch Merkels im Jahr 2007. Und bei dieser Gelegenheit äußerte sich der mittelständische Unternehmer gleich auch zu seiner Spende: „Es ist kein Geheimnis, dass ich ein großer Merkel-Fan bin – schon lange.“

Das kommt auch im Vorprogramm der Duderstädter Wahlkampfveranstaltung zum Ausdruck – Hans Georg Näder ist einer der Gäste einer kleinen Talkrunde, die Moderator Jan Stecker auf der Bühne begrüßt. Näder outet sich dort erneut als „ein großer Merkel-Fan“; die Bundeskanzlerin stehe für „Vertrauen und Verlässlichkeit“.

Abgesehen von diesem kleinen „Polit-Talk“ besteht das rund einstündige Vorprogramm eigentlich nur aus Unterhaltung. Zum Beispiel lässt Fritz Güntzler, Bundestagskandidat für den Wahlkreis Göttingen, zu dem auch Duderstadt gehört, auf einer Großleinwand sein Wahlkampfvideo zeigen. Anschließend tritt die Göttinger Sängerin Christiane Eiben auf und stimmt Güntzlers Wahlkampfsong an: „Stadt, Land, Fluss – ist für viele nur ein Spiel. Stadt, Land, Fluss – Fritz Güntzler hat ein Ziel. Stadt, Land, Fluss – soll’s gut gehen, sollen gedeihen. Stadt, Land, Fluss – Fritz Güntzler setzt sich dafür ein.“ Die Sängerin fordert die rund 4000 Anwesenden mehrfach zum Mitsingen auf, animieren lässt sich allerdings kaum jemand. Nur wenige machen mit, richtige Stimmung will nicht aufkommen. Vielleicht liegt das daran, dass das Lied – ja, wie soll man sagen? – etwas Kindisches an sich hat: Gewiss, der Song ist originell, und nicht jeder Bundestagskandidat tritt mit einem eigenen Song an. Aber irgendwie wirken die meisten CDU-Anhänger an diesem Nachmittag doch so, als ob sie nicht mitsingen können, ohne dabei peinlich berührt zu sein. Vielleicht liegt die Unlust, mitzusingen, aber auch einfach nur daran, dass alle nur auf eine Person zu warten scheinen: Angela Merkel.

Nachdem die Band Noble Composition, die schon eingangs aufgespielt hatte, erneut mehrere Lieder zum Besten gegeben hat, rückt die Ankunft Merkels näher. Die Menschen werden aufgefordert, aufzustehen, die orangefarbenen „Angie“-Schilder, die am Eingang verteilt wurden, hochzuhalten und die Bundeskanzlerin jubelnd in Empfang zu nehmen.

Doch die lässt auf sich warten. Langsam werden die Leute ungeduldig. Viele „Angie“-Schilder werden wieder auf die Holzbänke zurückgelegt. Für 17.00 Uhr war die Kanzlerin angekündigt, nun ist es schon 17.10 Uhr und sie ist immer noch nicht da. „Vielleicht stellt sie sich gerade für ’ne Bratwurst an“, schmunzelt ein Journalist. Doch ein paar Minuten später ist es endlich so weit: Zusammen mit dem niedersächsischen CDU-Landesvorsitzenden David McAllister und dem Generalsekretär der CDU Hermann Gröhe bahnt sich Angela Merkel ihren Weg durch die Menge zur Bühne. Manche steigen auf die Holzbänke, um die Kanzlerin besser fotografieren zu können. Die „Angie“-Schilder werden geschwenkt. Und der Wettergott meint es weiterhin gut – immer wieder kommt die Sonne hervor. Hätte die Veranstaltung ein wenig früher stattgefunden, wäre sie sprichwörtlich ins Wasser gefallen.

Nach einer kurzen Gesprächsrunde – Merkel nutzt die Gelegenheit, um Horst Seehofer zu seinem Wahlsieg zu gratulieren – folgt zunächst eine Rede David McAllisters. Danach ist Angela Merkel an der Reihe. Auffällig ist, dass beide scharf gegen die Grünen schießen. McAllister nimmt die gerade erst bekannt gewordenen Verstrickungen Jürgen Trittins in die Pädophilie-Debatte zum Anlass, um einen entschlossenen Beitrag der Grünen zur Aufklärung zu fordern. Die vermeintlich hohen moralischen Ansprüche müsse die Partei nun auch gegen sich selbst gelten lassen. Und Merkel wiederum spielt auf den von den Grünen geforderten „Veggie Day“ an: Die CDU, so die Bundeskanzlerin, sei keine Partei, die einem sagt, wann man kein Fleisch essen solle. Dafür sei die Politik nicht zuständig. Wichtig sei hingegen etwas anderes, so Merkel, nämlich Arbeitsplätze. Damit ist sie bei dem Kernthema ihrer rund vierzigminütigen Rede angelangt: Es sei zum einen wichtig, dass die bestehenden Arbeitsplätze erhalten bleiben; zum anderen sei es wichtig, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das Stichwort Arbeitsplätze taucht dann bei sämtlichen weiteren Themen ihrer Rede auf, darunter zum Beispiel Europa.

Es handelt sich wohl um die Rede, die Merkel derzeit nahezu identisch bei all ihren Wahlkampfauftritten in der Republik hält. „Das habe ich auch schon viermal gehört“, meint denn auch ein Journalist leicht gelangweilt zu seinem Kollegen, als Merkel auf das Thema Rente zu sprechen kommt. Und ein Kollege fordert den ihn begleitenden Kameramann auf, Merkels Rede nicht weiter aufzuzeichnen, weil sie sowieso nichts Neues sage.

Die Menschen auf den Sitzbänken hingegen scheinen ganz zufrieden: Sie haben jetzt endlich ihre Kanzlerin live erlebt. Das Wetter hat gehalten, und jetzt, zum Abschluss, können sie sich zwar kein Autogramm von ihr holen, denn Merkel muss sofort weiter – um 19.30 Uhr steht der nächste Wahlkampfauftritt auf dem Programm, diesmal in Potsdam; aber zumindest gibt es noch kostenlos orange-rotes Wassereis. Und wer möchte, kann sich auch noch neue, unbenutzte „Angie“-Schilder mitnehmen. Das machen immerhin einige.

Nach dem etwas lahmen, zähen Vorprogramm scheinen die CDU-Anhänger also doch noch auf ihre Kosten gekommen zu sein. Gleich einer kleinen Völkerwanderung geht es nun wieder zurück zu den zu Parkplätzen umfunktionierten Wiesen. Dort wartet auf manchen Autofahrer noch eine unliebsame Überraschung: Während Angela Merkel mit einem Hubschrauber der Luftwaffe davonschwebt, haben sich die Autos einiger Besucher im Schlamm festgefahren.

Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Demokratieforschung.