Vorbild Frankreich?

[analysiert]: Felix Butzlaff und Daniela Kallinich über Reformversuche der Sozialdemokratie

Eifrig erforschte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in den letzten Jahren internationale Best-Practise-Beispiele in sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Im Mittelpunkt standen dabei  Organisationsreformen als auch inhaltliche Debatten.[1] Gerade die Strukturreformen in der französischen Parti Socialiste erweckten dabei die Neugier der deutschen Genossen, hatten diese doch – wenn man es so linear und optimistisch sehen möchte – immerhin die Wahl des sozialistischen Präsidenten François Hollande ebenso wie eine linke Parlaments- und eine Senatsmehrheit erlaubt – oder zumindest nicht verhindert.

Die spektakulärste französische Innovation war dabei die Einführung so genannter offener Vorwahlen des sozialistischen bzw. linken Präsidentschaftskandidaten. Offen waren diese im Jahr 2011 erstmals durchgeführten sogenannten primaires im doppelten Sinne: Einerseits konnten Kandidaten anderer Parteien daran teilnehmen, so sich diese für ein Wahlbündnis entschieden und andererseits konnten auch Nicht-Mitglieder mitentscheiden. Zentrale Voraussetzung hierfür war eine Ehrenerklärung bei den tatsächlichen Präsidentschaftswahlen den gewählten linken Kandidaten auch zu wählen, sowie eine kleine Spende, um die Finanzierung der aufwendigen Wahl zu gewährleisten.

Aus wissenschaftlicher Perspektive zeitigt dieses Verfahren mehrere mögliche Wirkungen: Es kann von einer erhöhten demokratischen Legitimierung des gewählten Kandidaten ausgegangen werden, da dieser nicht durch Kungelei, Ältestenrechte oder Mauscheleien im Hinterzimmer aufgestellt wurde. Vielmehr wird den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, bei der Kandidatenauswahl mitzuwirken bzw. diese zu verfolgen. Gleichzeitig kann das Verfahren zu einer Stabilisierung des oft atomisierten linken Lagers beitragen. Ein weiterer Vorteil: Durch die Konzentration auf einen linken Kandidaten konnte dieser mit einer umso stärkeren Wählerbasis rechnen und damit sicherstellen, dass – der Logik des bipolaren französischen Parteiensystems folgend – im zweiten Wahlgang ein Sozialist und ein Konservativer aufeinander trafen.

Problematisch allerdings ist das Verfahren aus Sicht der Parteimitglieder: Die Bestimmung von Kandidaten ist oft eines der wenigen verbliebenen Exklusivrechte der Parteimitglieder, deren Rolle häufig auf die des Wahlplakateklebens und Flyerverteilens reduziert ist. Zwar spielen nach wie vor Motive wie ein Gemeinschaftsgefühl oder die geteilte Wertebasis eine wichtige Rolle für Partei-Eintritte, doch zeigten Mitgliederkampagnen vor den Wahlen 2007, das gerade das Recht, einen Kandidaten auszuwählen, viele motivierte – wenn auch nur für kurze Zeit –, Parteien beizutreten. Offene Vorwahlen haben damit aus Sicht der Mitglieder den Nachteil, dass ihr Einfluss zurückgeht.

Neben den Vorwahlen gab es im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen eine zweite Neuerung: Die Reaktivierung des Tür-zu-Tür-Wahlkampfs, kurz porte-à-porte. Die bereits im Obama-Wahlkampf erprobte Methode wurde in einem ersten Feldversuch während der Regionalwahlen getestet. Es zeigte sich, dass die direkte Ansprache von Bürgern mit Migrationshintergrund zu einem Anstieg von vier Prozent der Wahlbeteiligung führte. Da diese Bevölkerungsgruppe mehrheitlich links wählt, ein klarer Vorteil für die PS. An die Stelle des „Kampfes um die Mitte“ trat also der Versuch, Nichtwähler zu aktivieren. Zwischen Januar und Mai 2012 klopften ca. 80.000 zuvor geschulte Freiwillige an etwa 5 Millionen nach statistischen Methoden ausgewählte Türen, und das wohl mit Erfolg.[2] Denn so konnte die Distanz zwischen Politik und den sich nicht repräsentiert fühlenden Menschen – häufig mit Migrationshintergrund – zumindest ein wenig verringert werden und immerhin einer von Sieben potentiellen Nichtwählern zur Einschreibung auf die Wählerlisten und Teilhabe an den Wahlen animiert wurde.[3]

So könnte man eigentlich annehmen, dass das französische Beispiel der SPD eine Lehre und Vorbild wäre. Schließlich war der Wahlsieg der französischen Sozialisten im vergangenen Jahr der Auftakt zu einem selbstbewusst vorgetragenen Lied der sozialdemokratischen Wiederauferstehung in Europa. Zwar ist nicht zu verleugnen, dass Hollande vor allem deswegen siegen konnte, weil sein Vorgänger Sarkozy abgewählt wurde, doch zeichneten sich in den letzten Monaten immer wieder ein enger Dialog und eine Kooperation zwischen französischen Sozialisten und deutschen Sozialdemokraten ab.

Denn die beiden zentralen hier angesprochenen Themen – Öffnung und Basisorientierung der Partei – sind auch diejenigen Punkte, die im Kontext der sozialdemokratischen Schwesterparteien am stärksten diskutiert werden. Beide Punkte drücken das Unbehagen aus, dass auch Sozialdemokraten mittlerweile mit der Entwicklung ihrer Organisationsform Volkspartei und ihrer tristen zeitgenössischen Realität empfinden. Die Sympathie- und Vertrauenswerte, die mittlerweile Parteien im Allgemeinen und den großen Volksparteien im speziellen entgegen gebracht werden, sinken auf immer neue Tiefstände; die Wahlbeteiligungen und Parteimitgliedschaften zeigen verlässlich nach unten, und die Durchschnittsalter der sozialdemokratischen Lokalgliederungen steigen unaufhaltsam in immer neue Pensionistensphären.

Was also liegt näher, als zeitgleich über eine Öffnung der Organisation wider den Vorwurf der verstaubten Selbstbezogenheit nachzudenken, ergänzt durch Versuche, mit einer ganz neuen Basisorientierung die verbliebenen Mitglieder zu motivieren, gar neue Parteigänger von einem Beitritt zu überzeugen, und auf diese Weise einen Teil des alten sozialdemokratischen solidar- und Informationsnetzes wieder zu beleben?

Und hatte nicht Sigmar Gabriel in seiner Antrittsrede als Parteichef nach der verlorenen Bundestagswahl genau diese zwei Punkte angemahnt? Erstens, die Partei wolle und solle wieder dorthin gehen, wo es dreckig ist und streng riecht, den Kontakt mit den Bedrängten und Bedrückten nicht vermeiden, sondern suchen. Und zweitens, dass die SPD nicht Angst haben solle vor einer Öffnung ihrer Strukturen, sich dem Mitmachen und Mitreden nicht verschließen, sondern im Gegenteil ihre Spitzenämter und Kandidaturen transparenter und inklusiver wählen und erstreiten solle. Viele im Willy-Brandt-Haus fühlten sich gar erdrückt von der Wucht der Gabrielschen Wende- und Aufbruchs-Ideen.

Knapp vier Jahre später ist von diesem Anspruch nicht viel geblieben. Der Kandidat Peer Steinbrück erwuchs demselben Arkanum wie sonst auch – ohne die zuvor laut angekündigte Abstimmung zumindest der Parteimitglieder. Und der door-to-door-Wahlkampf wird zwar immer wieder kehrend als Vorbild und Ziel genannt, wie man überhaupt neidisch auf das öffentliche Bild von einer modernen Sozialdemokratie im Nachbarland und auf der anderen Seite des Atlantiks schielt. Die sozialdemokratische Mitgliedschaft wird denn auch permanent mit Emails zum „Mitmachen“, „Einbringen“, „Dabei-Sein“ aufgefordert, mit dem Portal „Mitmachen.SPD“ gibt es eine eigene Webplattform für wahlkampfwillige Mitglieder.

Ein Ergebnis der eingangs angeführten Studien war allerdings auch, dass technische Neuerungen und Organisationsreformen nur Wirkung zeitigen, wenn sie inhaltlich begründet sind und sich quasi naturwüchsig aus dem gefühlten Parteiprogramm ergeben. Und genau dies bleibt bei der SPD – und nicht weniger bei der PS – zumindest schwammig; die Zielgruppe, die in Frankreich mit der gezielten Ansprache der politikverdrossenen und muslimischen Mitbürger noch scharf zu sehen, ist in Deutschland unklar; die groß angekündigte Öffnung fiel zum Teil aus; und auch die bisherige Kampagne des Kandidaten verlief bisweilen ein wenig unglücklich.

Kurz: Es wird nicht klar, warum und für wen die Freiwilligen sich in die Bresche schlagen sollten, und was das motivierende Element überhaupt sein soll. Es bleibt der Verdacht, dass die Sozialdemokraten hierzulande vor allem der Nimbus der neuen sozialdemokratischen Moderne an Obama und Hollande reizt, der Weg dorthin, mit all seinen Unwägbarkeiten und Konsequenzen, die Öffnung und Basisfokussierung wohl mit sich bringen, der SPD aber noch zu viel Angst macht.

Felix Butzlaff ist Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung und beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung der deutschen und internationalen Sozialdemokratien. Daniela Kallinich beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Regierungs- und Parteiensystem Frankreichs. Dieser Text ist Teil unseres Dossiers zum Thema „Wahlen 2013“


[1] Vgl.neben den FES-Studien: Felix Butzlaff/Matthias Micus/Franz Walter: Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, Göttingen 2011, darin besonders der Text von Daniela Kallinich und Teresa Nentwig: Vom „ausgetrockneten Baum“ zur Partei des neuen Staatspräsidenten? Die Parti socialiste in Frankreich, S. 206 – 225.

[2] Vgl. Guillaume Liègey u.a.: Porte à porte. Reconquérir la démocratie sur le terrain, Paris 2013.

[3] Vgl. Liégey.