Vor seiner Zeit

[Göttinger Köpfe]: Michael Lühmann über Werner Conzes Göttinger Jahre.

Als Werner Conze Göttingen verließ, war er noch längst nicht der Historiker, als der er heute erinnert wird – als Wegbereiter der Sozial- und Begriffsgeschichte, die er anfänglich wesentlich inspirierte. Gleichwohl hatte Conze sein darauf zielendes wissenschaftliches Programm bereits in seinen Göttinger Jahren von 1946 bis 1952 voranbringen wollen. Allein, das historische Seminar der Göttinger Universität, zunächst Conzes Zufluchtsort, wusste diese Neuausrichtung nicht zu würdigen.

Dennoch: Ein Wiedereinstieg ins akademische Milieu war nach 1945 keineswegs ausgemacht für den 1910 geborenen und in den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik sozialisierten Conze. Als Sohn einer bildungsbürgerlichen Familie – der Vater war promovierter Richter, der Großvater Alexander Conze ein in Göttingen habilitierter Althistoriker und Ausgräber des antiken Pergamon – war der Weg in die Universität selbstverständlich, die Rückkehr dorthin nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen umso weniger.

19-jährig, jung und stürmend in stürmischen Zeiten war es die „politische Erregung jener Jahre um 1930“[1], die Conze innerlich zunächst zum Studium der Geschichte bewog, die sein politisches Denken vorerst prägte. Jene Jahre, in denen der aufmerksame Zeitgenosse bereits das Anfang vom Ende wähnte: „Böser Herbst nach einem schönen Sommer, Regen und rauhes Wetter und obendrein in der Luft etwas Drückendes, das nicht vom Wetter herrührte. […] es roch nach 1919 oder 20.“[2]

Göttinger KöpfeIn seinem Denken, seiner „Suche nach neuen politischen Leitbildern“[3] war Conze, der sich zwischenzeitlich der bündischen Jugend anschloss, damit ganz Kind seiner Generation und bürgerlichen Herkunft. Schließlich hatte sich in jener Altersgruppe „bereits früh ein Denken in nationalistischen und darüber hinaus in völkischen Kategorien durchgesetzt, wie sich vor allem in Universitäten zeigte“[4]. Nicht nur politisch fand der junge Conze eher in der rechten Ecke der überforderten Republik neue Leitbilder, sondern auch und gerade in der Universität, die für ihn politischer Lernort werden sollte.

In Leipzig traf er bereits früh auf die Verbindung von Geschichte und Soziologie, die für den bundesrepublikanischen Historiker Conze handlungsleitend werden sollte. Aber er traf auch in Gestalt und Werk des Soziologen Hans Freyer auf die Revolution von rechts. Und er traf nach seinem Wechsel nach Königsberg, unter dem intellektuellen Einfluss des Königsberger Denkkollektivs um Hans Rothfels stehend, auf die Ostforschung; hierbei auch auf die akademischen Anstrengungen, den deutschen „Volks-“ und „Kulturboden“ nach Osten zu begründen, im Speziellen.[5]

Erst 1996 ff. wurde auch wissenschaftlich thematisiert, dass Conze sich „an den Raumordnungsplänen des Nationalsozialismus beteiligt“[6] hatte. Dass Conzes vereinzelte antijüdische Versatzstücke in Beiträgen dieser Zeit ihn zum Vordenker der Vernichtung gemacht hatten, lässt sich so aber wohl nicht halten – gleichwohl blieb der Holocaust eine Leerstelle in seinem Werk.[7]

Mit Ende des Kriegs verschlug es Conze nach Niedersachsen, zunächst nach Osnabrück, bereits ein Jahr später nach Göttingen. Von hier aus versuchte der Bürgersohn seine wissenschaftliche Karriere wiederzubeleben, die bürgerliche Existenz versprach ihm Halt. Auch hier ist Conze ein paradigmatischer Vertreter seiner Generation, der über die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs in der jungen Bundesrepublik seine politische Primärorientierung immer stärker verlor. „Bei vielen wurde die politisch-generationelle Prägung nun überformt von kulturellen und politischen Neuorientierungen, deren zunächst opportunistischer Charakter nicht selten in Konversion überging.“[8]

Dennoch, der Wiedereinstieg musste organisiert werden und die Bedingungen hierfür waren anfänglich ungünstig. Die einst geknüpften Verbindungen waren mittlerweile über das gesamte Land verstreut, der einstige Förderer Hans Rothfels haderte mit einer Rückkehr in jenes Land, dem er sich so verbunden fühlte und welches ihn in die Emigration getrieben hatte. Dennoch gelang es Conze, wieder im akademischen Milieu Fuß zu fassen. Dass er 1946 nach Göttingen kam, lag nicht zuletzt an den exzellenten Verbindungen der Georgia Augusta zur Königsberger Universität. Göttingen, vom Krieg kaum zerstört und als erste deutsche Universität den Lehrbetrieb wieder aufnehmend, wurde letztlich gar zum Auffangbecken einer ganzen Reihe ehemaliger Ostforscher.

Aber die Göttinger Zeiten waren karge. Zwar war die Göttinger Universität zum Rettungsboot nicht weniger Königsberger geworden. Doch von dem knappen Lehrgeld, das er dort erhielt, konnte Conze kaum seine fünfköpfige Familie ernähren. Zeitungsaufsätze, Lexikonartikel und Vorträge hielten ihn über Wasser, auch ein Memorandum für die CIA. Conzes Perspektiven in Göttingen waren gleichwohl begrenzt. Dies lag auch an seiner wissenschaftlichen Ausrichtung, die ihn erst zu dem viel berufenen Historiker machte, dessen man sich heute erinnert.

Zunächst las Conze, anknüpfend an seine wissenschaftlichen Wurzeln, Agrar- und Siedlungsgeschichte. Doch bereits im Sommersemester 1947 bekannte er sich mit einer Vorlesung zur „Deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte vom Ausgang des Mittelalters bis 1806“ ganz offen zu einer sozialgeschichtlichen Ausrichtung. Conzes Vorlesungen bildeten somit das Gegenprogramm zu einem historischen Seminar, das noch stark den Geist der alten Politikgeschichte atmete. Conzes Differenzen mit Siegfried A. Kaehler – jener las parallel zu Conze „Die große Politik von 1890 – 1914“ – verhalfen ihm in der Professorenschaft, anders als unter den Studierenden, nicht zu großem Ansehen.

Dabei war Conze gar nicht an einem Konkurrenzverhältnis gelegen; vielmehr sah er in der Sozialgeschichte als Geschichte des Ganzen eine Möglichkeit, die getrennten Sphären der sozialen und der politischen Geschichte, von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, zu versöhnen. Conze aber drang am Göttinger Seminar nicht durch. „Nicht ohne Bitterkeit“ blickte Conze später auf jene Jahre zurück, in denen er „keinerlei finanzielle Forschungsmittel erhalten“ hatte.[9] Erst von Heidelberg aus setzte sich Conzes Programm durch. Somit bleibt sein Name weitgehend unverbunden mit dem Historischen Seminar der Universität Göttingen nach 1945, das sich – in der Conzes Leben und Wirken prägenden Dichotomie von Tradition und Innovation[10]für die Tradition und gegenConze entschieden hatte.

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Conze, Werner: Antrittsrede, in Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Jb. 1962/63, Heidelberg 1964, S. XX.

[2] Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Stuttgart/München 2000, S. 85.

[3] Dunkhase, Jan Eike: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 17.

[4] Herbert, Ulrich: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, Jürgen (Hrsg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95-114, Zitat S. 100.

[5] Vgl. Etzemüller, Thomas: Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 49 ff.

[6] Ebd., S. 27.

[7] Vgl. Dunkhase, S. 50 u. S. 235-256.

[8] Herbert, S. 101.

[9] Ebd., S. 244.

[10] Vgl. Koselleck, Reinhart: Werner Conze. Tradition und Innovation, in: Historische Zeitschrift, Bd. 245 (1987), S. 529-543.