Vor der Rückkehr des Verdrängten

[kommentiert]: David Bebnowski und Lisa Brüßler über die FDP im niedersächsischen Wahlkampfendspurt.


Manchmal können psychoanalytische Konzepte helfen, soziale Sachverhalte zu beschreiben. Ein besonders bekannter und häufig erhellender Ansatz liegt in der Verdrängung. Mit ihr sorgt die Psyche dafür, dass den Menschen der Blick auf seelische Abgründe, mithin Traumata, verstellt wird, um funktionieren zu können. Ihre Aufgabe ist es also, verstörende Erlebnisse oder Tabus abzuwehren und in Sphären zu verbannen, die sich dem bewussten Zugriff verweigern.[1] Es lohnt sich, den Wahlkampfabschluss der niedersächsischen FDP vor diesem Hintergrund zu betrachten.

Wir sind im südniedersächsischen Mittelstädtchen Northeim, die FDP hat zur letzten Veranstaltung dieses Wahlkampfes in den LUX-Saalbau geladen. Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Schwere, kristallene Kronleuchter, rot-goldene Stühle – ein vergangener, plüschiger Charme liegt im Raum. Die mediale Aufmerksamkeit an diesem Abend ist groß, die Stimmung unter den Besuchern erinnert an eine Party. Alles wartet auf die Protagonisten. Kurz nach 19 Uhr beginnt es:  „I’m doing fine, one step closer every day at the time. I won’t lose my mind, lose my mind…“ „Move in the right direction“, der Hit der Band Gossip schallt aus den Boxen. Das Lied gibt zugleich das Motto dieses Abends vor: „Uns geht es gut, wir schaffen das – bloß keine Panik!“ All das soll dieser Abend symbolisieren.

Fotos: Lisa Brüßler
Die Hauptdarsteller, die während der folgenden 90 Minuten versuchen werden, eben jenes Gefühl zu versprühen, schreiten zu den Klängen in die vorderen Reihen. Als Hauptattraktion ist neben dem niedersächsischen Spitzenkandidaten Stefan Birkner auch der angeschlagene Bundesvorsitzende Philipp Rösler angekündigt. Der zweite prominente Gast heißt ausgerechnet Wolfgang Kubicki und ist, auch wenn man an diesem Abend wenig davon merken wird, einer jener innerparteilichen Intimfeinde Röslers, einer derjenigen, die die Rücktrittsdebatte um Philipp Rösler im Vorfeld befeuert haben. Die niedrigen Umfragewerte der FDP in Verbindung mit dieser personellen Konstellation lassen den Text des Liedes grotesk erscheinen: Bewegt man sich in der FDP in die richtige Richtung? Kann dieses Motto für Philipp Röslers Führungsstil oder gar für die FDP der letzten Monate stehen?

Sicher nicht. Nur führt ebendies dazu, dass die Partei umso nachdrücklicher versucht, diese Dissonanz zu überspielen. Sicher, es ist Wahlkampf, Einheit ein Gebot, aber dennoch verwundert der Grad der zur Schau gestellten Eintracht. Ist es noch nachvollziehbar, dass sich die Politiker mühen, wenig Aufhebens um den innerparteilichen Zwist zu machen, wirkt es nur befremdlich, dass mögliche Fehler oder überhaupt nur Schwierigkeiten an keiner Stelle thematisiert werden.

Ganz im Gegenteil: Die Fortsetzung der schwarz-gelben Wunschkoalition wird von Anfang an als Stoßrichtung vorgegeben. Alle Redner, allen voran der im Unterschied zum heute energischen Rösler grau wirkende Stefan Birkner, preisen die gemeinsamen Ziele, wie das Festhalten am Gymnasium, positive wirtschaftliche Kennziffern und den Abbau der Neuverschuldung. Die Aussicht auf die schwarz-gelbe Koalition – nicht auf eine starke FDP – soll die Anhänger mobilisieren. Um all dies auch personell untermalen zu können, sitzen in den ersten Reihen auffallend viele führende Landespolitiker der CDU. Allesamt werden sie namentlich aufgerufen. Wir werden Zeugen eines geradezu devoten Sich-Fügens in die Rolle des koalitionären Anhängsels. Überdeutlich wird dies auf den ausliegenden Wahlwerbekarten des Landtagsabgeordneten Christian Grascha. Dort steht fett gedruckt: „Wer David McAllister als Ministerpräsidenten behalten will, der muss mit der Zweitstimme die FDP wählen.“

Aber die FDP ist im programmatischen Abseits in diesem Dilemma gefangen. Ohne die CDU wird es eben nicht gehen. Es bleibt nicht viel übrig für den kleinen, liberalen Koalitionspartner. Und so wirkt der populäre, aber weil längst beschlossene ebenso inhaltsleere Slogan „Schluss mit Schulden!“, der das riesige Plakat auf der Bühne ziert, fast schon traurig. Dass im Saal durchaus ein Mehr an Polarisierung und programmatischer Eigenständigkeit gewünscht wird, zeigt ein umgestaltetes Wahlplakat, das während der gesamten Veranstaltung hochgehalten wird. Mit schwarzem Filzstift wird der offizielle Slogan ergänzt durch ein „Schluss mit Soli!“. Das Ende des Länderfinanzausgleichs zu fordern, wie es etwa die Freien Wähler tun, das traut man sich hier offiziell jedoch nicht. Die Angst, die stark föderal orientierte CDU zu vergrätzen, scheint zu groß.

Da es an einem mobilisierungsfähigen Alleinstellungsmerkmal fehlt, flüchtet sich die FDP an diesem Abend stattdessen in ein prononciertes negative campaigning. Alle Redner beschwören den Lagerwahlkampf, ganz so, wie man es am Sonntagabend in verschiedenen Talkrunden und bis zur Bundestagswahl wohl noch häufiger hören wird. Es wird vor den „Rot-Grünen“ gewarnt, es geistert gar das vermeintliche Schreckgespenst „Rot-Rot-Grün“ mit Sarah Wagenknecht durch den Raum. Beispiele von Regelungswut und Bevormundung, die angeblich von diesen Koalitionen ausgehen, überschlagen sich und werden in die Vokabeln „Planwirtschaft“ und „Staatssozialismus“ gekleidet. Beinahe wirkt es, als ob Wolfgang Kubicki heute nur deswegen eingeladen wurde, weil er von den Problemen eines solchen Regierungswechsels als schleswig-holsteinischer Augenzeuge aus erster Hand berichten kann. Monoton sind seine Reihungen der Vorzüge liberaler Tugenden im Kontrast zur marktwirtschaftlichen Unfähigkeit der rot-grünen Gegner. All dies wirkt nicht nur wie aus der Zeit gefallen, sondern ist Zeugnis einer isoliert wirkenden Introvertiertheit.

Vier Tage später wird feststehen, dass diese Taktik zwar zu einer Mehrung der Stimmen führte, ihr Ziel dennoch verfehlte. Auf den entfesselten Jubel der FDP-Anhänger nach der ersten Prognose am Wahlabend wird die Ernüchterung folgen, dass auch fast zehn Prozent der Stimmen, historisch überhaupt das beste Ergebnis im Bundesland, die Koalition nicht retten werden. Eine Ahnung für die Gründe dieser ambivalenten Niederlage konnte man freilich in Northeim erlangen. Natürlich ist es das Verdrängen und Übertünchen der eigenen programmatischen Leere und die versteinert wirkende Fixierung auf die CDU. Im Laufe des Sonntagabends werden dies auch Zahlen untermalen. Denn die Kompetenzen, die mit den Themen der Koalition verbunden werden, sind auch in Niedersachsen zum Leidwesen der FDP fast ausschließlich mit der CDU verknüpft. So gewinnt die FDP zweifellos in der Wahl hinzu, dennoch verliert Schwarz-Gelb ein weiteres Bundesland. Ein Schritt in die besungene richtige Richtung war der Wahlkampf in Niedersachsen sicher nicht.

Die Psychoanalyse weiß, dass sich das Verdrängte immer nur für eine gewisse Zeit kaschieren und ausschalten lässt. Schließlich wird es doch – und dann umso unerbittlicher – in das Bewusstsein des „Patienten“ einbrechen und dort gravierenden Schaden anrichten.

David Bebnowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Lisa Brüßler ist dort studentische Hilfskraft.

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[1] Vgl. Freud, Sigmund: Die Verdrängung, 1915, zitiert nach: Laplanche, Jean/Pontalis, Jean-Bertrand: Verdrängung, in: Dies.: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main: 1977, S. 582-587, hier: S. 584.