Von „respektvoller Abscheu“ zu den „Besser-Machern“

[analysiert]: Johanna Klatt analysiert unkonventionelle politische Beteiligung damals und heute.

„Neu“ nannten sie sich, um sich gegen die „alte“ Arbeiterbewegung abzugrenzen: Die neuen sozialen Bewegungen – heute nur noch: soziale Bewegungen – waren die vornehmlich von Studenten geprägte bundesrepublikanische Zivilgesellschaft der siebziger und achtziger Jahre. Slogans der Frauenbewegung wie „Das Private ist politisch!“ schallten durch das Land, die Friedens- und Ökologiebewegung hatte Hochkonjunktur und mindestens eine ganze Generation Aktiver lehnte sich gegen die als konventionell empfundene Politik auf. „Alles Geschichte!“, könnte man meinen. Inwiefern aber hat die Zeit der Friedenstauben und Kinderläden, Sit-ins und Anti-AKW-Buttons bis in die politische Partizipationsstruktur der heutigen Bundesrepublik hinein ihre Spuren hinterlassen? Oder anders gefragt: Was ist im Jahr 2011 von ihr übrig geblieben?

Vergleichen wir die unkonventionellen, das heißt die nicht über Parteien, Parlamente und Regierungen verlaufenden politischen Aktivitäten von damals und heute. Typisch für die Studentenbewegung war unter anderem ihre Kritik an bürokratischen Strukturen. Dem nicht ganz unähnlich lehnen viele zeitgenössische Zivilgesellschaftler feste Bindungen und starre Mitgliedschaften ab. Parteien oder Gewerkschaften suchen deswegen händeringend nach innovativen Mitgliederstrukturen, die bindungsscheue (und häufig hochqualifizierte) Menschen besonders ansprechen. Durch Probemitgliedschaften oder Mentoring-Programme sollen sie angelockt werden. Doch das funktioniert nicht immer; sich zunächst als „kleines Rad“ in großorganisatorische Strukturen zu begeben und jede Woche Sitzungen beizuwohnen, schreckt ab. Zugleich hat sich das Protest- und Demonstrationspublikum gesellschaftlich normalisiert – selten war dies so einleuchtend zu beobachten wie bei den Protesten gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21. Ob Rechtsanwalt, Frühpensionär oder junge Mutter, kaum ein gesellschaftlicher Typus schien hier nicht vertreten.

Überhaupt liegt informelle und individuelle Partizipation im Trend. An Unterschriftenaktionen oder Petitionen teilzunehmen, ein Produkt zu boykottieren oder einem Massenaufruf auf Facebook zu folgen – immer häufiger werden solch unkonventionelle Formen politischer Beteiligung gewählt, die ohne die „Pflicht“ zum langfristigen Engagement auskommen. Mit anderen Worten: Die bereits erwähnte feministische Losung trifft hier gedanklich durchaus auf viele Aktionsmodi der modernen Zivilgesellschaft zu. Heute ist man ganz häufig im Privaten politisch. Was also die Studentenbewegung in den siebziger und achtziger Jahren kennzeichnete, ist heute – zumindest in der Form, sich politisch zu engagieren – Usus.

So weit, so gut. Nicht zu übersehen bleibt jedoch, dass diese Präferenz, sich politisch auf unkonventionelle Weise zu beteiligen, ganz offenbar auf Kosten der konventionellen Spielarten politischer Mitwirkung geht. Durch die starken Rückgänge in den Parteimitgliedschaften sind die Bindungen und Schnittstellen zwischen der repräsentativen Ebene der Demokratie und den aktiven Zivilgesellschaftlern heute nur noch hauchdünn, wenn nicht gar bereits gekappt. Nicht nur Akteure der neuen sozialen Bewegung, sondern auch deren Kinder und Enkel beteiligen sich heute überwiegend außerparlamentarisch und außerparteilich. Lehnte man sich in den siebziger Jahren noch mit voller Verve gegen die Elterngeneration, gegen die bürokratischen Strukturen der Parteiendemokratie und gegen einiges mehr auf, so haben heute nur noch wenige politisch Aktive Eltern in einem Ortskreis oder Parlament. Sicher, dieses Eltern-Kind-Verhältnis führte auch damals zu negativer Energie und Groll; gleichzeitig aber auch zu einem gewissen Maß an Achtung und Respekt voreinander. Mehr noch: So sehr sich die Studenten damals auflehnten, die Parteien und die Demokratie profitierten gleichwohl von der Dynamik ihrer Bewegungen. Zumindest aus demokratiewissenschaftlicher Perspektive betrachtet waren diese Aktivitäten dem Ansehen der politischen Institution zuträglich.

Rund 30 Jahre später verhält es sich damit schon ganz anders. Von den vielfältigen Formen der Zivilgesellschaft, von ihrer Energie und Leidenschaft kann die Parteiendemokratie heute nicht mehr in gleicher Weise profitieren. „Anders als noch zu Beginn der 70er Jahre haben die etablierten politischen Institutionen nicht mehr von den demokratischen Aufbrüchen der Bürgergesellschaft profitieren können,“ so formulieren es die Bewegungsforscher Dieter Rucht und Roland Roth (Rucht, Dieter; Roth, Roland: Soziale Bewegungen und Protest – eine theoretische und empirische Bilanz, in: Roth, Roland; Rucht, Dieter (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 2008, S. 635-668, hier S. 667). Stattdessen sinkt das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der politischen Führung und steigt die Parteienverdrossenheit. Was Paul Nolte in einem aktuellen Beitrag als „schleichende demokratische Ermüdung oder Auszehrung“ beschreibt, ist Ausdruck einer schwächelnden liberal-repräsentativen Demokratie und ihrer klassischen Institutionen. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur die BRD betrifft. In Sachen moderner, unkonventioneller und informeller Bürgergesellschaft zählt Schweden etwa zu einem der „Pionierländer“. Und gerade hier haben die politische Führung und ihre demokratischen Organe ihr Ansehen in der Bevölkerung über Jahre hinweg deutlich eingebüßt.

Vergleicht man die unkonventionelle Partizipation der beiden Generationen, so scheint also besonders ihr Verhältnis zu den repräsentativen Organen der Demokratie ein anderes. Damals wie heute opponierte man zwar gegen die Parteien und Parlamente, gegen deren in vielerlei Hinsicht als defizitär wahrgenommene Politik. Doch der höhere Grad an Radikalität und Ideologisierung, der die sozialen Bewegungsaktivitäten der siebziger Jahre kennzeichnete, speiste sich auch aus einer besonderen Wahrnehmung des politischen Gegners: Die repräsentativen Ebenen wurden zwar gewissermaßen verabscheut, dabei aber gleichzeitig respektiert. Dieser Respekt vor dem politischen Gegenüber versorgte nicht nur die sozialen Bewegungen selbst mit Energie (denn gegen einen „starken“ Gegenüber müssen schwere Geschütze aufgefahren werden). Er wirkte sich ganz nebenbei auch positiv auf die Wahrnehmung der parlamentarischen Demokratie insgesamt aus.

Heute scheint man es mit vielen unkonventionellen politischen Aktionen nicht nur anders, sondern in erster Linie besser machen zu wollen. Die Ebene der Politik wird nicht mehr auf gleiche Weise „respektvoll verabscheut“, sie erscheint vielmehr gegenüber einer als omnipotent wahrgenommenen Wirtschaft häufig als machtlos. Kollektive und bewegungsartige Ansammlungen unkonventioneller politischer Beteiligung finden sich deswegen vor allem dann, wenn der Gegner gleichzeitig aus Politik und Wirtschaft besteht (etwa bei den Treffen der G8 oder beim Bahnprojekt Stuttgart 21).

Es ist das Zusammenspiel von parlamentarischen und direkt-demokratischen, von unkonventionellen und konventionellen Beteiligungsformen, von dem die repräsentative Demokratie am stärksten profitiert. So betrachtet stimmen Vielfalt und Vitalität der unkonventionellen politischen Beteiligung anno 2011 optimistisch. Doch die Voraussetzung dafür, dass dieses Zusammenspiel funktioniert, ist, dass die auf unterschiedlichen Ebenen engagierten Akteure einander für voll nehmen. Und insofern hatten die neuen sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts den „Besser-Machern“ von heute vermutlich etwas voraus.

Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“.