[analysiert]: Katharina Trittel befasst sich mit einer Gedenkstätte der Sozialdemokratie.
„Die durch den Vereinigungsparteitag 1875 und der Kritik des Gothaers Programms weithin bekannt gewordene Stadt Gotha zeigt […] eine reichhaltige Ausstellung […] aus der Kampfzeit der Gothaer Arbeiterbewegung mit ihren Erfahrungen und Lehren.“ So die Ankündigung auf einem alten Ausstellungsplakat des Tivoli zu Gotha, der „Gründungsstätte der deutschen Sozialdemokratie“.[1] Die Gedenkstätte im Tivoli erzählt heute die bedeutsame, mythenumrankte Geschichte der SPD vor allem anhand sinnfällig ausgewählter Ausstellungsgegenstände, die dem Besucher die historische Dimension des Ortes fasslich machen sollen. In bester museumspädagogischer Absicht will man sie „zum Sprechen“ bringen. Und so erzählen sie versatzstückartig von den wichtigsten Etappen dieser Geschichte: etwa von Ferdinand Lassalle, August Bebel und Willy Brandt. Folgt man ihrer Spur entlang der Vitrinen, führen sie einen unweigerlich ins Herz des Tivoli, in sein mythisches Zentrum: den so genannten Kaltwasser’schen Saal, in dem der Geist des Ortes und der Dinge sich verdichtet.
Aber in welchem Genre erzählt die Ausstellung im Tivoli eigentlich die Geschichte der SPD, mit welchen Stilmitteln gelingt es ihr, den Geist der Vereinigung heraufzubeschwören, den Glanz alter Tage? Wie entfaltet die Geschichte ihre Strahlkraft in dieser heute eher kühl und sachlich wirkenden ehemaligen Gaststätte?
Die Antwort darauf ist simpel dem Konzept der Ausstellung gemäß: Hier wird eine Legende erzählt, ein Epos, das nicht an Symbolen spart und dessen Kernelemente sich am bildhaftesten in dem historischen Kronleuchter, der jüngst wieder im Saal aufgehängt wurde, bündeln lassen. In eben dem Saal, in dem 1875 der legendäre Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein stattfand, auf dem schließlich das Gothaer Programm verabschiedet und der Grundstein der SPD gelegt wurde. Als Ausgangspunkt und Mündung der SPD-Geschichte in Gotha und gleichsam der Ausstellung, wird über den Saal die historische Bedeutsamkeit dieses Ortes rekonstruiert und der Versuch unternommen, gleichsam eine aktuelle zu erzeugen.
Doch von vorn: 2006 werden die Räumlichkeiten des Tivoli wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht – und mit ihnen zahlreiche Objekte, welche die wechselvolle Geschichte der SPD erzählen, sie als Erinnerungsgegenstände in Bilder fassen. In der Dauerausstellung verbinden sich diese zahlreichen Überlieferungsfragmente in einer eigentümlichen Mischung von alt und neu, von echt und ausgestellt, von genuin und reproduziert zu einer Erinnerungsstätte. Unter der Maxime: „Ein Blick zurück und zwei nach vorn – nur wer weiß, woher er kommt, weiß auch, wohin er geht“[2] sollen die ausgestellten Dinge eine authentische Identifikationsmöglichkeit mit der Geschichte, die dieses Haus verkörpert, ermöglichen.
Durch die Bierflasche eines Bundestagsabgeordneten wird der Besucher an den Ursprung des Hauses als Gaststätte erinnert; eine Postkarte zeigt „Die Befreier des Proletariats“ und eine Eisenbahnlok steht symbolisch für die Zugkraft der SPD. So wie sich diese Dinge um den Saal gruppieren, wird die Chronologie nahezu aufgehoben, denn: Alle Wege führen schließlich in den Kaltwasser’schen Saal, die präsentierten Gegenstände weisen quasi den Weg zur Peripetie der sozialdemokratischen Geschichte, die sie erzählen.
Damit folgt die Ausstellung einem eigentlich veraltet anmutenden Konzept: Es fußt auf Traditionsbewusstsein, verlässt sich auf die Bedeutsamkeit des Ortes und schafft so etwas wie einen antiquierten Mythos – die Erinnerung an eine Geschichte, deren Wiederbelebung und neue Erzählung durch die Symbolik und den Geist der Dinge geleistet werden soll und nicht zuletzt durch die Rekonstruktion des Saales mit seinem damaligen Flair. Und obwohl der Raum aufgrund baulicher Veränderungen nicht mehr so aussieht wie einst, setzt man heute alles daran, den Saal und sein Ambiente möglichst detailgetreu wiederherzustellen. Symbolträchtige Gemälde – wie beispielsweise das von Leopold Eichborn, welches sich der Metaphorik des Ballhausschwures bedient und so auf das legendäre Gründungsereignis rekurriert – sollen darüber hinaus den Geist des Ortes reanimieren.
Tivoli zu Gotha heute, Foto: Michael Sander, CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons
So entsteht ein merkwürdiges Konglomerat aus Historizität und Anachronismus. Davon ausgehend, dass der Geist der Dinge in ihrer Geschichte liegt, verlässt man sich in Gotha ganz auf die Strahlkraft des Saales, in dem der Kronleuchter, genauso wie im Ausstellungskonzept, die zentrale symbolische Position einnimmt. Als Repräsentationsgegenstand mit historisierendem Glanz ist man auf seine erneute Aufhängung, die nun endlich ermöglicht wurde, besonders stolz. Er ist ein Relikt aus der Vergangenheit, das die Wirkung des Eichborn-Gemäldes nur noch unterstreicht und dem Raum einen mystischen Hauch verleihen will.
Dabei wirkt die Aufhängung des Leuchters wie der Versuch, die alten Mythen gegenwärtig zu halten und eigene mit geliehenen Legenden zu verbinden und zu einem stimmigen Initiationsmythos zu stilisieren. Das Bemühen um Symbolik und historische Authentizität erklärt sich durch das Bestreben, den genius loci weiter zu speisen, der im Wesentlichen das Besondere des Tivolis ausmacht. Denn der Ort an sich, so wie er heute ist, ist ein Ort, der dieses Epos, diese Vergangenheit braucht – möglicherweise genau wie die Partei, die sich in ihm gründete.
Vielleicht ist Gotha heute auf den ersten Blick nicht der nächstliegende Schauplatz, um ein neues Epos zu erzählen. Es jedoch genau hier zu inszenieren, erscheint allemal passend, denn: „Nichts hat sich an den Zielen verändert, nichts hat sich an den Menschen geändert, alles hat sich geändert, es bleibt die Idee unverändert.“ (Genossin seit 1979).[3] Zwar scheint das Konzept der Ausstellung einen latenten Duktus des Früher-war-alles-besser verinnerlicht zu haben; der historische Leuchter soll das heutige Tivoli im Glanz früherer Zeiten erstrahlen lassen, er soll den Erinnerungsort und seine Legenden beleuchten. Die Suche nach dem Geist der Vergangenheit – der Besucher spürt sie in jeder Vitrine, in jedem Exponat. Aber auch wenn die Konzeption der Ausstellung rückwärtsgewandt wirkt, gelingt es ihr doch, zumindest eines an „Erfahrungen und Lehren“ wie angestrebt zu vermitteln: Hier ruht eine Geschichte in allen Dingen.
Katharina Trittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Broschüre des Fördervereins Gothaer Tivoli e.V.: Gothaer Tivoli. Gründungsstätte der deutschen Sozialdemokratie, o.J.
[2] Der Neuanfang 1990. 10 Jahre SPD-Kreisverband Gotha – 10 Jahre SPD in Thüringen. Stolz auf unsere Vergangenheit, aufrecht in die Zukunft, in: Förderverein Gothaer Tivoli e.V. (Hrsg.): 1875-2000: 125 Jahre Gothaer Parteitag und Gothaer Programm. Gotha, 2000, S. 17-19, hier S. 17.
[3] Eintrag aus dem Gästebuch in der Tivoli Gedenkstätte in Gotha, ohne Datum.