Der verblasste Geist von Schwante

[analyisiert]: Michael Lühmann über die Gründung der SDP im Herbst 1989.

Oberkrämer. So lautet seit 2002 der Name einer Autobahnabfahrt auf dem nördlichen Berliner Ring, deren Name sie einem lokalen Kiefernwald verdankt. Es ist eines dieser unzähligen Verwaltungskunstprodukte, die Gebietsreformen hervorzubringen pflegen und dem der ursprüngliche Name der Abfahrt weichen musste: dem zum Ortsteil degradierten Schwante. Dabei besaß dieser Ort kurzzeitig einen mythenumwobenen Klang, nachdem sich dort im Oktober 1989, im örtlichen Pfarrhaus, die ostdeutsche Sozialdemokratie wiederbegründete. Gleichwohl, der Verwaltungsakt hat durchaus seinen eigenen Symbolcharakter. Wie der Ortsname am Autobahnrand verschwand, weil Autobahnabfahrten keine Ortsteile aufführen dürfen, so verschwand auch der Geist von Schwante aus der sozialdemokratischen Erinnerungskultur oder führt in der Kartographie sozialdemokratischer Erinnerungsorte zumindest nur noch ein Mauerblümchendasein.

Dabei war die formale Gründung einer ostdeutschen Sozialdemokratie nicht nur ein Akt der im Spätsommer 1989 immer stärker um sich greifenden oppositionellen Selbstermächtigung mit dem Ziel, der SED im Dialog zu begegnen. Vielmehr markierte der bereits im Spätsommer 1989 von Martin Gutzeit und Markus Meckel in Umlauf gebrachte „Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel, eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen“ eine doppelte Zäsur: Zum einen überwanden die Initiatoren die Idee einer Sammlungsbewegung, die für alle Bürger sprechen könnte, weil sie diese für schwer umsetzbar und „in sich letztlich autoritär“ hielten.[1] Zum anderen kam die Gründung einer sozialdemokratischen Partei einem maximalen Affront gegen den Anspruch der SED gleich, selbst das Erbe der Sozialdemokratie angetreten zu haben. „Für uns war besonders wichtig auch der Einbruch in diese Tradition, die Kampfansage an die SED, der wir absprachen, in irgendeiner Weise sozialdemokratisch zu sein“[2], so Markus Meckel rückblickend. Damit schlugen die Gründer von Schwante einen vermeintlich radikaleren Weg als die Bürgerbewegungen ein. Versuchten letztere als legale Vereinigungen zunächst seitens des Staates anerkannt zu werden, um in einen rechtlich legitimierten Dialog treten zu können, stellten die SDP-Gründer per Parteigründung die, im Art. 1 der DDR-Verfassung verbürgte, Führung des Arbeiter- und Bauernstaates durch die SED in Frage. Die Parteigründung war damit nicht nur ein Akt öffentlicher Delegitimation der Herrschenden, sie stellte zugleich die Machtfrage.[3]

Schwante, SDP-Gründungsgebäude, Foto: Samson1964

Gründungsort der ostdeutschen Sozialdemokratie
Foto: Samson1964, frei nach Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported

Die aber entschieden letztlich nicht die Gründungsmütter und -väter von Schwante, sondern das Volk auf der Straße. Überdies, die Konkurrenz der Mythenproduktion in Umbruchphasen wie 1989, in denen „der Drang nach politischer Mobilisierung, das Bedürfnis nach Verstehen, Trost und Sinngebung besonders dringlich, und die Auseinandersetzungen um politische Autorität oft besonders heftig [sind]“[4], kannte kein zentrales Ereignis, keinen zentralen Ort, keine alleinigen Helden, keine gerade verlaufende Linie. Die Wiederbegründung der Sozialdemokratie sollte, so radikal er auch daherkam, nicht der zentrale Akt der ostdeutschen Revolution werden – auch weil deren eigentlich im Osten Deutschlands beginnende Erzählung seitens der SED längst enteignet, entwertet und entheimatet war.[5] Jedenfalls: Nicht ohne Zufall vermisste man auf der Gründung in Schwante Feierlichkeit, Monstranz, historisches Pathos, jugendlichen Leichtsinn, Arbeiterinnen und Arbeiter. Vielmehr dominierten nachdenkliche, bärtige Männer, um die vierzig Jahre alt, Theologen zu großen Teilen, die Wiedergeburt der Sozialdemokratie der DDR. Diese 68er des Ostens, vor allem hervorgegangen aus den protestantischen Rest-Milieus der DDR, unterschieden sich vielmehr deutlich von den Erfahrungen und Prägungen der arbeiterlichen Mehrheitsgesellschaft der Fürsorgediktatur.[6]

Die ostdeutschen Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler mochten zwar die Agenturen der Freiheitsartikulation auf ostdeutschen Straßen gewesen sein, die Gestaltung dieses Prozesses entglitt ihnen jedoch zusehends. Auch wenn Meinungsumfragen zwischenzeitlich einen deutlichen Sieg der Sozialdemokratie prognostiziert hatten, so wandte sich die DDR-Bevölkerung in der ersten freien Wahl nicht an die Wiedergänger von Bebel und Lassalle, sondern an – Helmut Kohl. Dessen Versprechen von schneller Einheit, von Wohlstand und D-Mark vollendeten die jahrelange SED-Propaganda von Planübererfüllung, vom Überholen ohne einzuholen; Kohls Versprechungen verzichteten auf Experimente und folgten damit – nach Jahren der ökonomischen, ökologischen und politischen Abwärtsspirale – einem weitverbreiteten Wunsch, der nachgerade zum Signum der Geschichte beider deutscher Teilstaaten werden sollte: der Suche nach Sicherheit.[7]

Da spielte es keine Rolle mehr, dass sich die ostdeutsche Sozialdemokratie zu Marktwirtschaft und Einheit bekannte, sich nicht aus alten Blockflöten rekrutierte, sondern peinlich genau die Abgrenzung zu reformwilligen SED-Mitgliedern aufrechterhielt. Vielmehr spielte da schon eine Rolle, dass in der bundesrepublikanischen Sozialdemokratie ein klares Bekenntnis zur Einheit umstritten blieb. Viel zu spät begriffen die Enkel Brandts, was der Ostpolitiker mit seinen berühmten Worten vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehört, zum Ausdruck gebracht hatte. Und so verloren die Gründer von Schwante, die ostdeutschen Sozialdemokraten, neben ihrem schillernden wie Stasi-belasteten Vorsitzenden Manfred „Ibrahim“ Böhme auch die ersten freien Volkskammerwahlen der DDR – und hernach Oskar Lafontaines SPD auch die Bundestagswahl im wiedervereinten Deutschland, während Helmut Kohl als Kanzler der Einheit in die Geschichte einging.

Und so verschwanden die Gründerinnen und Gründer von Schwante, so sie der Partei nicht den Rücken kehrten, recht bald von der politischen Bildfläche, landeten auf den politischen Hinterbänken oder suchten sich andere Orte des Weiterwirkens jenseits der Partei. Zugleich verblasste die Erinnerung an den Gründungsakt der ostdeutschen Sozialdemokratie, ging unter im Rauschen der konkurrierenden Mythen um die ostdeutsche Revolution, ging auch unter in der Vielzahl anderer Mythen der Sozialdemokratie, die mit ihrer ostdeutschen, protestantisch geprägten und bei Wahlen so erfolglosen Wiederbegründung recht wenig anfangen konnte. Und zuletzt verschwand der Name Schwante auch noch auf der A10 Richtung Hamburg.

Michael Lühmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Weitere Beiträge zum SPD-Gründungsjubiläum:

 


[1] Herzberg, Wolfgang/von zur Mühlen, Patrick: Auf den Anfang kommt es an. Sozialdemokratischer Neubeginn in der DDR 1989. Interviews und Analysen, Bonn 1993, S. 119.

[2] Ebd.

[3] Vgl. zu dieser Zweiteilung oppositioneller Strategie Timmer, Karsten: Die Massenmobilisierung im Oktober 1989, in: Gutzeit, Martin/Heidemeyer, Helge/Tüffers, Bettina: Opposition und SED in der Friedlichen Revolution. Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/90, Düsseldorf 2011, S. 83-93.

[4] Waechter, Matthias: Mythos, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 2.2010, online einsehbar unter: https://docupedia.de/zg/Mythos?oldid=75531 (eingesehen am 22.03.2013).

[5] Jüngst Franz Walter: Das „Rote Sachsen“. Der gebrochene Mythos, in: ders./Felix Butzlaff (Hrsg.): Mythen, Ikonen, Märtyrer. Sozialdemokratische Geschichten, S. 105-117.

[6] Diese Überlegungen gehen zurück auf: Michael Lühmann: Geteilt, ungeliebt, deutungsschwach? Die 68er-Generation der DDR, in: Deutschland Archiv, Jg. 41 (2008) H. 1, S. 102-107; ders.: Jenseits der Mehrheitsgesellschaft? Die Milieus der DDR-Opposition – Rest-Milieus im Arbeiterstaat, in: Deutschland Archiv, Jg. 43 (2010) H. 5, S. 847-853.

[7] Vgl. zur Konzeptionalisierung von Sicherheit als politikgeschichtliches Erklärungsmuster: Eckart Conze: Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 3/2005, S. 357-380.