Grüne Glücksphilosophie

[analysiert]: Julika Förster über die grüne Wahlkampftaktik.

Die grüne Wahlkampftaktik dieser Tage mag auf den ersten Blick ebenso kühn wie revolutionär anmuten: Kann sich der Wähler in den Wochen vor dem Urnengang gewöhnlich an diversen Wahlversprechen erfreuen, sieht er sich im derzeitigen Wahlkampf unter anderem mit den grünen Forderungen nach fleischlosen Kantinentagen, Tempolimits, steigende Lebensmittelpreise und Umweltabgaben auf Plastiktüten konfrontiert. Gesellschaft und Presse zeigen sich dementsprechend eher mäßig begeistert, prompt ist von den „grünen Tugendtyrannen“ der „Verbotspartei“ die Rede.

Das Wahlprogramm der Grünen hat in den vergangenen Wochen stellenweise für einigen Tumult gesorgt. Die Empörung vereinzelter Anti-Vegetarier ließ hier und da gar die Befürchtung emergieren, die Partei wolle nach dem donnerstäglichen Hühnchenschenkel im Kantinenidyll als nächstes auch die Demokratie abschaffen. Derartige Zweifel muss man nicht ernsthaft teilen, um sich über die grünen Desiderate doch zumindest zu wundern. Ein Blick in die Presse verdeutlicht die Problematik der Debatte, die sich rund um den grünen Wahlkampf entzündet hat: „Politik, das ist für die Grünen vor allem ein groß angelegtes Umerziehungsprogramm“, räsoniert da mancher, während anderswo die Sorge artikuliert wird, die Grünen wollten „uns zwangsbeglücken.“ Und auch aus Regierungskreisen ertönt bereits die Warnung vor künftiger staatlicher Bevormundung, sollte es im September zu einer rot-grünen Mehrheit kommen.

Bezeichnend ist zunächst, dass eine Handvoll moralischer Vorstöße die Grünen sogleich als Lehrmeister der Nation zu brandmarken vermag. Gewiss hat die zunehmende politische und gesellschaftliche Sensibilisierung für ökologische Anliegen die Partei in ihrem ethischen Selbstbewusstsein bestärkt. Hinzu kommen noch halbernste Ressentiments, die einer Partei, die immerhin zu einem beachtlichen Anteil aus Beamten besteht[1] und die zudem spätestens seit der Benennung ihrer Spitzenkandidatin in klerikalen Verdacht geraten ist, gern genüsslich entgegengebracht werden. Mit anderen Worten: Ein gewisses Maß an moralischer Überheblichkeit lässt sich den Grünen nur allzu leicht nachsagen. Allerdings ist eine tatsächliche Missbilligung der gesellschaftlichen Entwicklung seitens der Partei ebenfalls schwer zu leugnen.

Natürlich habe man in grünen Kreisen bereits in den siebziger und achtziger Jahren die Konsumgesellschaft gegeißelt, erinnert sich auch der Abgeordnete Dr. Hermann Ott bei seinem Göttinger Gastspiel in der Paulinerkirche. Doch inzwischen sei der materielle Wohlstand sogar zur „Ersatzreligion“ geworden, das Glück der Gesellschaft zu eng mit dem wirtschaftlichen Wachstum verknüpft. Bei solchen Worten verwundert es nicht, wenn sich mancher wahlberechtigte Bürger von den Grünen zurück auf die unbequeme Schulbank verwiesen fühlt; wenn er das Gefühl hat, sein Wohl und seine Freiheitsrechte würden dem Wunsch nach einer gesünderen Umwelt untergeordnet. Und so folgt die Antwort aus dem Publikum prompt: „Jetzt wollen die Grünen einem auch noch sagen, wann die Menschen glücklich sind“, echauffiert sich eine Dame in den vordersten Reihen.

Dies aber beschreibt prägnant die Schwierigkeit des grünen Wahlkampfes: Natürlich ist sich die Partei bewusst, dass die Umsetzung ihrer Agenda, an der sie die Gesellschaft beteiligt sehen möchte, letzterer nicht durchweg allzu große Freude bereiten wird. Es ist indes für die Grünen keine neue Erfahrung, Wähler mit allzu gewissenhaften Forderungen zu (v)erschrecken: Erinnerungen an den Wahlkampf des Jahres 1998 werden wach, in dem die Grünen eine Erhöhung des Benzinpreises auf 5 DM proklamierten. Zwar gelang damals die rot-grüne Regierungsbildung, jedoch verjagte jene Forderung die neuen Wählergruppen, die den Grünen einen zusätzlichen elektoralen Auftrieb hätten bescheren können.[2] Was aber wäre die Alternative? In ihren Anfangszeiten mochten die Träumereien von einer besseren Welt noch inspirierend und chic gewirkt und der Partei die Gunst vormaliger Nichtwähler zugetragen haben, doch im Gegenzug fehlte es damals an realisierbaren Vorhaben.[3]

Der Vortrag Otts unterstreicht es: Die Grünen haben begriffen, dass nur „kleine Schritte“ sie ins Ziel führen können. Nun fällt ihnen also die unangenehme Aufgabe zu, zugunsten der eigenen Überzeugung, Handlungsfähigkeit und Authentizität in den sauren Apfel zu beißen und den Wählern auch möglicherweise unpopuläre Umsetzungsvorschläge zu präsentieren. „Veränderungen fangen im Kopf an“, lautet Herrn Otts Allheilmittel, und der Abgeordnete verordnet die bittere Medizin an dieser Stelle sicherlich nicht nur der politischen Elite, sondern ebenfalls der Gesellschaft. Diese dabei sachte auf einen möglichen Profit durch die Wiederherstellung eines nicht-materiellen gesellschaftlichen Wohlbefindens hinzuweisen, wirkt vielleicht belehrend, macht die gute Sache aber eventuell auch etwas schmackhafter. Partiell mag diese Strategie sogar aufgehen, wird die Umweltagenda doch von immer mehr Menschen als relevantes Politikum gewürdigt.[4] Die grüne Kernwählerschaft jedenfalls wird es beruhigen, nach der Aufregung um die Urwahl den Blick wieder verstärkt auf eben diese öffentlich häufig belächelten Themenschwerpunkte richten zu können. Gleichzeitig verringert sich auf diesem Wege aber nicht die Kluft zwischen der Partei und den Gesellschaftsschichten, die es sich schlichtweg nicht leisten können, den gewünschten Beitrag zur Rettung der Umwelt zu leisten. Oder zu jenen, die sich – wie Herr Ott etwas trotzig konstatiert – fragen, ob es auf der Welt nicht dringlichere Probleme gibt.

Bei allem Kulturpessimismus offenbart sich dennoch das grüne Hoffen auf eine aktivere Bürgergesellschaft. Die Verantwortung müsse eher von unten kommen, bemerkt Herr Ott gegen Ende der Veranstaltung. Er zöge daher eine starke demokratische Gesellschaft einer „Ökodiktatur“ vor. Eine interessante Ansicht, wird seine Partei derzeit doch mancherorts gar als „antiliberal“ eingestuft. Tatsächlich greift es letztlich aber zu kurz, der Partei die mangelhafte Beachtung des Freiheitswertes vorzuwerfen. Allein in den Grundsatzprogrammen[5] der bisherigen Parteigeschichte finden sich ebenso enthusiastische wie aufschlussreiche Bekenntnisse zur individuellen Selbstbestimmung, wobei schnell ersichtlich wird, dass der grüne Freiheitsbegriff an dieser Stelle zweifellos einer exakteren Definition bedarf. Wie Renate Künast im Jahre 2009 in einer Rede verkündete, reiche es „nicht aus, den Bürgerinnen und Bürgern bestimmte Freiheitsrechte zu garantieren. Der Einzelne muss auch in die Lage versetzt werden, diese Rechte zu nutzen.“[6] Freiheit wird hier also stark mit dem Begriff der Gleichheit verknüpft, was dann ein Eingreifen des Staates gegebenenfalls legitimieren könnte, um allen Bürgern (im Sinne der Generationengerechtigkeit auch zukünftigen Generationen) eine gleichwertige Ausgangslage zu ermöglichen.

Den Vorwurf erzieherischer Maßnahmen müssen sich die Grünen angesichts ihrer moralisierenden Gesellschaftskritik wohl gefallen lassen. Das unbeirrte Verfolgen ihrer Ziele schützt sie immerhin vor thematischem Opportunismus. Jedoch erscheinen Anklagen, die auf eine geringe Demokratiefähigkeit der Partei zielen, vor dem Hintergrund des Versuchs, zwei grundlegende demokratische Werte besser miteinander zu versöhnen, wahrlich übertrieben. Man mag über den „Veggie Day“ und die Daseinsberechtigung von Plastiktüten denken, wie man will: Den Grünen muss zugute gehalten werden, dass ihr Wahlkampf die Gesellschaft zum Diskutieren animiert. Und sei es über die Frage, wie weit der Arm staatlicher Gewalt reichen darf.

Julika Förster ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Probst, Lothar: Bündnis 90/ Die Grünen. In Niedermayer, Oskar (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden 2013, S. 523.

[2] Walter, Franz: Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 81f.

[3] Ebd., S.80f.

[4] Vgl. dazu die Ergebnisse einer repräsentativen  Bevölkerungsumfrage des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, online einsehbar unter:  http://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Umweltinformation_Bildung/4396.pdf [letzter Zugriff: 18.08.13].

[5] Die Grundsatzprogramme sind online einsehbar unter: http://www.boell.de/stiftung/archiv/archiv-4289.html [letzter Zugriff: 18.08.13].

[6] Künast, Renate: Ein Neuer Gesellschaftsvertrag. Bilanz nach 60 Jahren Grundgesetz, in: Kritische Justiz (Hrsg.): Verfassungsrecht und gesellschaftliche Realität. Dokumentation: Kongress „60 Jahre Grundgesetz: Fundamente der Freiheit stärken“ der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen am 13./ 14. März 2009 in Berlin, Baden-Baden 2009, S.17.