[analysiert:] Teresa Nentwig über den französischen Sozialisten Jean Jaurès und dessen Aneignung durch heutige Politiker
Am Morgen des 31. Juli 2014 statteten François Hollande und Sigmar Gabriel dem Pariser Café Taverne du Croissant einen Besuch ab. Genau hundert Jahre zuvor, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, war hier der überzeugte Pazifist und Vater der sozialistischen Einheit Jean Jaurès von einem ultranationalistischen Fanatiker ermordet worden. Zum Gedenken an Jaurès legten Hollande und Gabriel vor dem Café einen Kranz nieder und nahmen anschließend für ein kurzes gemeinsames Gespräch im Inneren Platz.
Auf eine Ansprache verzichtete der französische Staatspräsident an diesem Morgen – wohl um eine Wiederholung des Debakels vom 23. April 2014 zu vermeiden. An diesem Tag hatte Hollande im südfranzösischen Carmaux, wo Jaurès 1892 für die streikenden Minenarbeiter eingetreten war, den Startschuss zu einer Reihe von Gedenkveranstaltungen aus Anlass dessen hundertjährigen Todestages gegeben – und war dabei ausgepfiffen, ausgebuht und beschimpft worden. Zum Beispiel hatten ihm Passanten bei der Kranzniederlegung am Jaurès-Denkmal zugerufen: „Niemals würde Jaurès wie Sie reden!“ und „Wenn er Sie hören würde, dann würde sich Jaurès in seinem Grab umdrehen!“ Ein solch katastrophales Bild wollte der Staatschef am 31. Juli 2014 nicht noch einmal abgeben.
Kurz nach Hollandes und Gabriels Stippvisite besuchten auch Bildungsminister Benoît Hamon, der Parteichef der Sozialisten Jean-Christophe Cambadélis und der langjährige frühere Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë die Taverne du Croissant, um Jaurès zu würdigen. Patrick Le Hyaric, Direktor der von Jaurès im Jahr 1904 gegründeten Tageszeitung L’Humanité und Abgeordneter der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) im Europaparlament, warf den Sozialisten angesichts dieses Defilees vor, „den zweiten Tod von Jaurès zu organisieren“.
Zuvor hatte mit Jean-Luc Mélenchon bereits ein weiterer linksradikaler Politiker die Sozialisten für ihren Umgang mit Jean Jaurès angegriffen. Mélenchon, Mitglied des Europäischen Parlaments und bis zum 22. August 2014 Vorsitzender der Linkspartei, war sogar so weit gegangen, an dem Denkmal für Jaurès in dessen Geburtsort Castres ein Blumengebinde niederzulegen, dessen Band die Aufschrift „Komm zurück, sie sind verrückt geworden“ trug. Auch seinem Beitrag für die Sonntagszeitung Le Journal du Dimanche hatte er den Titel „Jaurès, komm zurück! Sie haben das Lager gewechselt!“ gegeben.
Hier wird die Kritik der links von den Sozialisten stehenden Politiker sehr gut deutlich: Sie werfen François Hollande, der Regierung und der Sozialistischen Partei vor, eine Politik zu machen, die auch von den rechtsbürgerlichen Kräften stammen könne – das Einschwenken auf einen wirtschaftsliberalen Kurs stelle einen Verrat an Jaurès und dessen Idealen dar. Mélenchon und andere linksradikale Politiker sehen in Jaurès vor allem einen Politiker, der zugunsten der „einfachen Leute“ auf eine Revolution setzte. Sich selbst betrachten sie als Nachfolger dieser „revolutionären“ Linken und stellen diese der „bürgerlichen“, sozialistischen Linken gegenüber, die keinerlei Recht habe, sich auf Jaurès zu berufen. Dass die Sozialisten dies dennoch tun, liegt daran, dass auch eine andere Lesart seines Werkes und seines Handelns möglich ist: Jaurès als Anhänger von Reformen. Insgesamt gesehen, habe Jaurès „sein Leben lang zwischen Reform und Revolution“ geschwankt, so der Journalist Renaud Dély; er sei „zugleich Staatsmann und Rebell“ gewesen, urteilte auch der Historiker Gilles Candar. Auf diese Weise schuf Jaurès die Grundlage für die Umkämpftheit seines Erbes.
Die Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Linken um sein Vermächtnis sind infolgedessen nicht neu. Immer dann, wenn die Linke gespalten sei, streite sie sich um Jaurès, so sein Biograf Vincent Duclert. Bereits in den 1920er Jahren war dies der Fall: Als die Regierung des Radikalsozialisten Édouard Herriot am 31. Juli 1924, also genau zehn Jahre nach Jaurèsʼ Ermordung, entschied, seine sterblichen Überreste in das Pariser Pantheon zu überführen, sprach der Kommunist Paul Vaillant-Couturier vom „zweiten Mord an Jaurès“[1].
Interessant ist darüber hinaus, dass die Inbesitznahme von Jaurès nicht auf die linken Parteien begrenzt ist. So hat sich beispielsweise Nicolas Sarkozy zwischen dem 14. Januar und 30. März 2007 in 17 von 63 Reden 88 Mal auf Jaurès berufen. Wenig später, am 12. April 2007 in Toulouse, wo er eine seiner letzten Reden vor der Präsidentschaftswahl hielt, nahm Sarkozy dann allein 32 Mal Bezug auf ihn und bezeichnete sich sogar als „Erbe von Jaurès“. Eine solche Aneignung, die vor allem taktische Gründe hatte, ist zum einen möglich, weil Jaurès nicht nur „einer der wichtigsten traditionsbildenden Politiker der französischen Linken“[2] ist – mehr noch als für den Sieg des Sozialismus setzte er sich für die Demokratisierung der Republik ein. Jaurès hat damit als einer der Franzosen, die die demokratische Tradition des Landes verkörpern, seinen festen Platz im nationalen Gedächtnis – in fast 3.000 Kommunen tragen Straßen, Plätze oder öffentliche Gebäude seinen Namen. Übertroffen wird er dabei nur von Charles de Gaulle. Dass konservative Politiker sich in die Tradition von Jaurès stellen, ist zum anderen aber auch dadurch möglich, dass seine Themen und Werte (darunter soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Courage) zeitlos aktuell sind, heute sogar mehr denn je.
Vor diesem Hintergrund gibt es selbst in der rechtsextremen Front National (FN) Politiker, die Jaurès für sich beanspruchen. Steeve Briois etwa, Generalsekretär der Partei, schmückte Anfang 2014 seine Glückwunschkarte zum neuen Jahr mit einem Spruch des früheren Sozialistenführers. Außerdem stellte Briois, der seit März 2014 auch Bürgermeister der einstigen sozialistischen Hochburg Hénin-Beaumont und seit Mai 2014 zudem Europaabgeordneter ist, in seinem Büro im Rathaus von Hénin-Beaumont eine große Büste von Jaurès auf. Und auch Marine Le Pen greift gern auf ihn zurück: Wenn sie in ihren Reden beispielsweise die „kleinen Leuten“ gegen die Eliten verteidigt, einen starken Staat predigt oder für die Laizität eintritt, dann sind Bezugnahmen auf Jean Jaurès nicht unüblich. Mit diesen „‚sozialistischen‘ Akzenten“[3] versucht die Vorsitzende der FN, Sympathisanten der Linken für sich zu gewinnen.
Le Pens Lebensgefährte, der Vizepräsident der FN Louis Aliot, hat ebenfalls keine Hemmungen, die Ikone der Linken politisch zu nutzen: Während des Europawahlkampfes 2009 warb er mit einem Plakat für sich, auf dem in der Mitte das Konterfei Jaurèsʼ und oben ein bekanntes Zitat des Sozialisten zu sehen waren: „Das Vaterland gehört demjenigen, der nichts anderes mehr hat.“ Aliot schloss daraus: „Jaurès hätte Front National gewählt“. Diese Botschaft prangte groß im unteren Bereich des Wahlplakates. Mit seiner Einschätzung lag Aliot aber völlig falsch, denn Jaurès war zwar Patriot, aber es handelte sich um „einen der Welt gegenüber offenen Patriotismus“, wie es der Jaurès-Experte Gilles Finchelstein kürzlich formulierte, und damit um eine Haltung, die die fremdenfeindlich-nationalistische FN eigentlich bekämpft.
Jaurès würde sich sicherlich im Grabe umdrehen, wenn er erführe, auf welch zum Teil haarsträubende Weise er zum Spielball der Parteien geworden ist. Er hätte wirklich Besseres verdient.
Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Zit. nach Wieder, Thomas: Jean Jaurès, un héritage toujours disputé, in: Le Monde, 27.04.2014.
[2] Breuss, Susanne/Liebhart, Karin/Pribersky, Andreas: Rituale des nationalen Gedenkens – die Schweiz, Frankreich, Österreich und Deutschland im Vergleich, in: Brix, Emil/Stekl, Hannes (Hrsg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 395–417, hier S. 401.
[3] Kauffmann, Grégoire: Les idées de Mme Le Pen sont bien à droite. Ses invocations de Jaurès ne sont qu’un leurre, in: Le Monde, 28.03.2014.