[analysiert]: Teresa Nentwig über die aktuelle Entwicklung der Grünen in Frankreich
Es waren keine Glanzleistungen, die die französischen Grünen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen dieses Jahres hingelegt haben. Ihre Präsidentschaftskandidatin Eva Joly kam am 22. April lediglich auf 2,31 Prozent der Stimmen. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Juni sah es nur wenig besser aus: Die Grünen, die in Frankreich seit Ende 2010 Europe Écologie-Les Verts (EELV) heißen, erhielten im ersten Wahlgang 5,46 Prozent und im zweiten Wahlgang 3,60 Prozent der Stimmen. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Höhenflüge – bei der Europawahl 2009 hatten sie 16 Prozentpunkte eingefahren, bei der Regionalwahl 2010 zwölf Prozentpunkte und bei der Senatswahl 2011 die Zahl ihrer Abgeordneten von vier auf zehn erhöht – kann man hier wahrlich von einem Fiasko sprechen.
Dass die Grünen dennoch mit 17 Abgeordneten in die Nationalversammlung einziehen konnten, ist auf eine Vereinbarung zurückzuführen, die die Partei Mitte November 2011 mit der Sozialistischen Partei (Parti socialiste, PS) geschlossen hatte: Neben programmatischen Zugeständnissen (unter anderem die Verringerung des Anteils der atomaren Stromerzeugung bis 2025 von derzeit 75 Prozent des Elektrizitätsverbrauchs auf 50 Prozent) erhielt EELV insgesamt 63 Wahlkreise, in denen lediglich ein Kandidat der Grünen, nicht aber der Sozialisten antreten sollte. „Die Grünen sehen die Zukunft rosig“, betitelten daraufhin mehrere Zeitungen ihre Artikel. Bedingt durch das schlechte Abschneiden Eva Jolys bei der Präsidentschaftswahl traten zwar am Ende doch in rund zwanzig der 63 Wahlkreise sozialistische Kandidaten gegen grüne Kandidaten an. Doch dem Wahlerfolg tat dies keinen Abbruch: Erstmals in ihrer Geschichte konnten die Grünen eine eigene Fraktion in der Nationalversammlung bilden – 15 Abgeordnete sind dafür Voraussetzung.
Zu diesem Erfolg kam ein weiterer hinzu: Der neue sozialistische Staatspräsident François Hollande machte zwei Vertreter der Grünen zu Ministern. Während die Parteivorsitzende Cécile Duflot Ministerin für „territoriale Gleichheit und Wohnungsbau“ wurde, ist ihr Parteikollege Pascal Canfin zum beigeordneten Minister für Entwicklung im Außenministerium ernannt worden. In einer Pressemitteilung, die die Grünen unmittelbar nach Bekanntgabe der Zusammensetzung der neuen Regierung veröffentlichten, hieß es: „Die politische Ökologie hat am heutigen Abend ganz klar eine neue Etappe überschritten.“[1]
Die Schattenseiten des grünen Triumphs traten jedoch schnell zutage: Es zeigte sich, dass trotz der Vereinbarung vom November 2011 erhebliche inhaltliche Differenzen zwischen den Grünen und den Sozialisten bestehen. Um Konflikten in der Atompolitik mit EELV aus dem Weg zu gehen, hatte die PS das Ressort für Umwelt, nachhaltige Entwicklung und Energie vorsorglich bereits mit einer Sozialistin besetzt. Doch auch so traten auf diesem Feld Spannungen auf: Arnaud Montebourg, Minister für die „Wiederaufrichtung der Industrieproduktion“, zog den Zorn der Grünen auf sich, als er im August behauptete, dass die Kernenergie eine „Zukunftsbranche“ sei. Unterstützung erhielt er prompt von Innenminister Manuel Valls. Eva Joly, die glücklose Präsidentschaftskandidatin, warf Montebourg daraufhin vor, „die Zukunft im Rückspiegel zu betrachten“ und ein „Gefangener alter Schemata“ zu sein.[2] Zwar pfiff Premierminister Jean-Marc Ayrault seinen Minister rasch zurück und verwies auf die mit den Grünen vereinbarte Reduzierung des Kernenergieanteils an der Stromerzeugung, aber ein erster Riss im Regierungslager blieb, ja: er verfestigte sich, als wenige Tage später Umweltministerin Delphine Batho erklärte, Frankreich brauche dauerhaft Kernenergie. Batho unterstützt zudem den Bau eines neuen Großflughafens bei Nantes – die Grünen dagegen lehnen ihn vehement ab. Weitere Beispiele für Divergenzen ließen sich nennen.
Der Riss zwischen PS und EELV vertiefte sich, als im französischen Parlament die Abstimmung über den sogenannten „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ (Europäischer Fiskalpakt) anstand. Nachdem sich die Grünen am 24. September mehrheitlich gegen dessen Unterzeichnung ausgesprochen hatten, stand die Frage im Raum, ob die beiden Minister und die 17 Abgeordneten sowie die zwölf Senatoren von EELV an dieses Votum gebunden sind oder ob sie ihre Zugehörigkeit zur Regierungsmehrheit über ihre Parteizugehörigkeit stellen. Die Forderung, die Regierung im Falle einer Nichtzustimmung zum Fiskalpakt zu verlassen, kam nicht nur vom politischen Gegner, sondern auch von der als linksliberal geltenden Tageszeitung Le Monde. Sie argumentierte unter anderem, dass die beiden grünen Minister entlassen werden müssten, da der Fiskalvertrag eine zentrale Achse der Politik des Staatspräsidenten betreffe (darunter die Begrenzung des jährlichen Haushaltsdefizits auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Rettung des Euro).
Die Abstimmung verlief schließlich weniger dramatisch als befürchtet: In der Nationalversammlung, wo am 9. Oktober votiert wurde, gab es bei den Grünen drei Ja-Stimmen, zwölf Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen. Im Senat sprachen sich zwei Tage später zwei Vertreter von EELV für den Fiskalpakt aus, fünf dagegen und fünf enthielten sich. Überraschend war hingegen das Ergebnis bei den Sozialisten: Insgesamt zwanzig Abgeordnete stimmten in der Nationalversammlung gegen den Fiskalpakt; weitere neun enthielten sich – obwohl sie am Tag vorher vom Fraktionsvorsitzenden zur Fraktionsdisziplin aufgerufen worden waren. Die zuvor aus den Reihen der PS kommenden Rufe nach Rücktritt beziehungsweise Entlassung der beiden grünen Minister verstummten vor diesem Hintergrund schlagartig, und Premierminister Ayrault sah sich gezwungen, Duflot und Canfin seine Unterstützung zu versichern.
Der Pariser Politikwissenschaftler Gérard Grunberg hatte bereits vor der Abstimmung im Parlament konstatiert, dass EELV mit ihrem Votum gegen den Fiskalpakt bewiesen habe, dass sie keine Regierungspartei sei. Würde man Daniel Cohn-Bendit fragen, würde er diese Meinung vermutlich teilen, denn auf das Nein seiner Partei reagierte der Europaabgeordnete äußerst gereizt: Wenn die Grünen gegen den Fiskalpakt stimmten, dann müssten sie logischerweise auch gegen den Haushalt für das Jahr 2013 votieren und folglich aus der Regierung austreten, sagte er dem Fernsehsender i-Télé am 23. September. Cohn-Bendit beklagte in diesem Zusammenhang eine „totale Inkohärenz“: Die Grünen wollten gegen den Fiskalpakt, aber für den Haushalt stimmen, obwohl dieser ein Sparhaushalt par excellence sei. „Wer kann das verstehen? Die Leute finden sich in dieser Politik nicht mehr wieder“, so Cohn-Bendit, der 2008 den Anstoß zu dem Wahlbündnis Europe Écologie gegeben hatte.[3] Im März 2010 hatte er sich dann für die Verschmelzung von Europe Écologie mit der Partei Les Verts ausgesprochen. Entstehen solle keine klassische Partei – „das ist die Welt von gestern“ –, sondern eine „politische Kooperative“.[4] Wenige Monate später war die neue Partei in Form von Europe Écologie-Les Verts Wirklichkeit geworden. Doch sie entwickelte sich nicht so, wie es sich Cohn-Bendit vorgestellt hatte.
Der 67-jährige Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament ging jetzt infolgedessen noch über seine Kritik an der inhaltlichen Positionierung hinaus: Er kündigte an, sein Engagement für EELV für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen. In der Tat, die ablehnende Haltung der Grünen zum Fiskalvertrag war für Cohn-Bendit lediglich der „Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“, wie er es selbst ausdrückte.[5] Bereits in den vergangenen Monaten hatte er mehrfach Kritik an seiner Partei geübt. Unter anderem hatte er festgestellt, dass EELV ein „verabscheuungswürdiges Bild“ abgebe: „Sie [die Mitglieder der Parteispitze, T. N.] stellen sich nicht einmal die Frage, warum die Mitglieder gehen und wie man den dramatischen Misserfolg bei der Präsidentschaftswahl wie auch bei der Parlamentswahl erklären kann.“[6]
Wenig später kritisierte Cohn-Bendit, dass seine Partei mit großer Mehrheit eine Änderung der Statuten abgelehnt habe. Die Mitglieder sollten zukünftig auch per Brief und Internet abstimmen können – dagegen hatte sich das zentrale Parteigremium gewandt. „Jede Idee, die Partei demokratischer zu machen, wurde abgelehnt. Ich muss feststellen, dass die politische Kultur von EELV im Gegensatz zu dem steht, was ich mir für die Partei gewünscht hatte. Alles Böse, was man über Parteien sagen kann, ist wahr. Es handelt sich um Monster“, so Cohn-Bendit.[7] Jean-Vincent Placé, der Präsident der EELV-Fraktion im Senat, relativierte die Kritik umgehend: „Dany hat ein Problem mit dem kollektiven Charakter von Parteien. Er ist jemand, der sehr individualistisch ist.“[8]
Doch hat Cohn-Bendit mit seiner Kritik wirklich so Unrecht? Momentan scheint es so, dass das Parteileben von EELV verkümmert, während die Minister, Abgeordneten und Senatoren ihre neu gewonnene Aufmerksamkeit und ihre bisher nie da gewesenen Einflussmöglichkeiten genießen. Mit anderen Worten: Die französischen Grünen scheinen einen hohen Preis für ihre Regierungsbeteiligung zu zahlen. Das Nein der Partei zum europäischen Fiskalpakt könnte ein erster Warnschuss gewesen sein.
Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Durand, Pascal: Communiqué sur la nomination du gouvernement, 16.05.2012, online einsehbar unter http://eelv.fr/2012/05/16/communique-sur-la-nomination-du-gouvernement/ [eingesehen am 04.11.2012]. Pascal Durand war im Mai 2012 Sprecher von EELV. Am 23.06.2012 löste er dann Cécile Duflot an der Parteispitze ab.
[2] Zit. nach Lepetit, Bérangère: Eva Joly: „Montebourg regarde l’avenir dans un rétroviseur“, in: Le Parisien, 28.08.2012.
[3] Zit. nach Besse Desmoulières, Raphaëlle: Daniel Cohn-Bendit claque la porte sans la fermer, in: Le Monde, 25.09.2012.
[4] Cohn-Bendit, Daniel: Inventons ensemble une Coopérative politique, in: Libération.fr, 22.03.2010, online einsehbar unter http://www.liberation.fr/politiques/0101625905-inventons-ensemble-une-cooperative-politique [eingesehen am 04.11.2012].
[5] Zit. nach Besse Desmoulières, Raphaëlle: Daniel Cohn-Bendit claque la porte sans la fermer, in: Le Monde, 25.09.2012.
[6] Zit. nach ebd.
[7] Zit. nach ebd.
[8] Zit. nach ebd.