In der Politikwissenschaft gilt die „Pressemitteilungsvermutung“. Das heißt, mit den offiziellen Tweets von Parteien kann deren offizielle Kommunikation erfasst werden. Spannenderweise zeigte eine Untersuchung zusammen mit Heiko Giebler und Thomas Poguntke zur Bundestagswahl 2017, dass diese Vermutung insbesondere für Deutschland gilt.[1] 2017 dominierten in Deutschland einerseits die „Valenzthemen“. Es geht also um die Werte und Kompetenzen der Kandidierenden. Seit Ende August 2021 sind Valenzissues laut SPARTA[2] immer unter den Top 3 der häufigsten Themen und einige Male auch auf dem ersten Platz. Aber Moment: 2017 waren die Valenzthemen doch dominierend! Sie spielen also 2021 wieder eine Rolle.
Andererseits gab es 2017 neben den „Kompetenzthemen“ auch hoch polarisierende (bspw. Flüchtlinge und die Ehe für alle) – aber keine ökonomischen. Wir schlussfolgerten daher, dass es nicht mehr länger um die Ökonomie gehe. Es zeigte sich bei den sozio-ökonomischen Themen kaum eine Polarisierung zwischen Parteien; außer zwischen Grünen und AfD. Die Prognose war klar: ohne einen dramatischen externen Schock wie eine Finanzkrise oder ähnliches würde das auch so bleiben.
Dann kam die Pandemie. Je länger die Einschränkungen auch für das Wirtschaftsleben galten und gelten, desto stärker rücken Wirtschafts- und Finanzthemen sowie soziale Gerechtigkeit und das Sozial- sowie Gesundheitssystem in den Vordergrund. SPARTA spiegelt diesen Themenumschwung wider. „Economy“ rangiert ebenfalls unter den Top 3 der häufigsten Themen und seit der vergangenen Woche auch zumeist auf Platz 1: Sozio-ökonomische Themen dominieren nun wieder die Agenda. Hier hat insbesondere die SPD noch ein Minimum an Restglaubwürdigkeit und zudem mit Olaf Scholz einen Spitzenkandidaten aufgestellt, der genau diese Themenkompetenz verkörpert. 2021 öffnen die sozio-ökonomischen Herausforderung der Pandemiebekämpfung der SPD ein Gelegenheitsfenster, das sie dank ihres Kandidaten auch glaubwürdig nutzen kann.
Der Aufschwung der SPD ist also nicht nur personengetrieben, sondern thematisch fundiert. Umfragen und Twitter-Daten zeigen, dass die deutsche Bevölkerung sich wenige Tage vor der Wahl 2021 neben Klima und Corona eben um sozio-ökonomische Themen sorgt. Und diese Themen passen so eindeutig zum Kompetenzprofil der SPD, dass selbst mögliche Fehltritte und Skandale keine großen Effekte mehr auf den Wahlsonntag erwarten lassen.
Umgekehrt ist das „Umfragetief“ der Grünen ebenso thematisch bedingt und nicht nur personell der Spitzenkandidatin anzulasten. Das Wort „Tief“ passt hier sowieso nicht, da weiterhin eine Verdoppelung des Wählerstimmenanteils für die Grünen im Vergleich zu 2017 prognostiziert wird. Die Themenagenda, die zwischenzeitlich einfach perfekt zum programmatischen Profil der Grünen passte, hat sich einfach wieder aufgefächert. Daran hätte auch ein Robert Habeck nichts ändern können. Es sind einfach doch wieder die sozio-ökonomischen Themen und nicht nur Klima, Umwelt und Flüchtlinge, die die deutsche Bevölkerung umtreiben. Entsprechend sehen wir 2021 als indirekte Folge der Pandemie eine Wiederbelebung schon fast vergangener Konfliktlinien zwischen „linken“ und bürgerlichen Parteien. Vielleicht das letzte Mal.
Prof. Dr. Simon T. Franzmann ist Direktor der Instituts für Demokratieforschung. Der vorliegende Beitrag ist zuerst auf dem Blog Blog von SPARTA erschienen.
[1] Vgl. Franzmann, Simon T., Heiko Giebler, and Thomas Poguntke. „It’s no longer the economy, stupid! Issue yield at the 2017 German federal election.“ West European Politics 43.3 (2020): 610-638. (Open Access)
[2] SPARTA steht für Society, Politics and Risk with Twitter Analysis und ist ein an der Universität der Bundeswehr München angesiedeltes Monitoring-Projekt für Twitter. Nähere Infos gibt es auf der Projekt-Website.