Die Türkei als Wegweiser?

[kommentiert]: Benjamin Wochnik über den Vorbildcharakter der Türkei für die arabischen Staaten im Umbruch.

Die vergangenen Wochen haben die westliche, vor allem aber die arabische Welt überrascht. Die zementierte Macht der autoritären Despoten in Tunis und Kairo zerbarst zu Staub. Eigentlich müssten wahre Freudenschreie durch das politische Europa und die USA hallen – doch die Jubelrufe klingen etwas verhalten.

Grund dafür ist die latente Befürchtung des Westens, dass, wenn die autoritär säkularen Despoten weichen, zwangsläufig Islamisten das Machtvakuum füllen würden. Jahrzehnte führte Deutschland eine solche Außenpolitik der Doppelmoral. Ob Kinkel, Fischer, Steinmeier oder der amtierende deutsche Außenminister Westerwelle, alle waren sich im Umgang mit ihren Partnern aus Tunesien, Ägypten und anderen autoritär regierten Staaten einig – bis zu den aktuellen Protesten. Die Despoten wurden hofiert, da die Bekämpfung der Islamisten, das Abfedern von Flüchtlingswellen und zuverlässige Öllieferungen wichtiger waren als das nachhaltige Einfordern universeller Menschenrechte. Stets ließen die Außenminister vor deutschen Kameras sinngemäß verlauten, man habe „die Menschenrechtssituation angemahnt“ und poche „auf Verbesserungen“.

Der gemeine Tagesschauseher und Tageszeitungsleser konnte so den Eindruck gewinnen, die autoritären Herrscher seien ein Segen, da sie ihre islamistischen Gesellschaften und unangenehme afrikanische Flüchtlingsströme im Zaum hielten. Außerdem verliefen die All-Inclusive-Ferien immer ruhig. Das gesellschaftspolitische Bild der jeweiligen Länder schien festzustehen: die uneingeschränkten Herrscher mit ihren Vorzügen auf der einen und, sinnbildlich für die islamistische Bedrohung ganz allgemein, die Muslimbrüder auf der anderen Seite. Natürlich wären islamistisch regierte Staaten mit ihrem Menschenrechtsverständnis, wie z.B. das ehemalige von den Taliban regierte Afghanistan, tatsächlich ein „GAU“. Und genau mit dieser nicht ganz unangebrachten Befürchtung legitimierte der Westen jahrzehntelang die politische und wirtschaftliche Unterstützung der Ben Alis und Mubaraks.

Dieser Zustand verhinderte jedoch die Wahrnehmung des zunehmenden demokratischen Potentials von Teilen dieser Gesellschaften. Progressive Entwicklungen, in Bildung und globaler digitaler Vernetzung, fanden fast unbemerkt von der internationalen Öffentlichkeit statt. Viele Tunesier und Ägypter waren sich ihrer prekären Lebensbedingungen bewusst, sie registrierten auch alternativen Lebenswelten.

Plötzlich brach der Zorn der unterdrückten Tunesier und Ägypter los. Sie hatten ihre Angst verloren, waren nicht mehr gewillt, in solchen Gesellschaften zu leben und stemmten sich gegen die staatlichen Repressionen. Die internationale Politik, die Öffentlichkeit und die arabischen Despoten wurden von den ausbrechenden Freiheitsrevolten überrascht. Beide Revolten haben eins gemein – sie werden nicht wie befürchtet von Islamisten getragen, sondern von einer frustrierten Generation junger Menschen, die nach Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verlangt.

Zwangsläufig muss die Frage gestellt werden, was nach der postdespotischen Ära in den Beispielländern Tunesien und Ägypten passiert. Wird ein Regime das andere ablösen oder erhält die Demokratie eine reale Chance? In Tunesien und Ägypten mussten die Diktatoren Ben Ali und Mubarak das Feld räumen. Die jeweiligen Oppositionen und Gesellschaften müssen sich also jetzt auf ein neues Regierungsmodell einigen. Aber wie kann ein solches Modell aussehen? Die vergangenen Regime unterdrückten seit Jahrzehnten die jeweilige gesellschaftspolitische Opposition. Diese also hatten keinerlei Erfahrungswerte im Umgang mit Demokratie und all ihren Instrumenten. Zudem darf die religiöse Majorität der Bevölkerung nicht außer Acht gelassen werden. Eine islamische Gesellschaft ist nicht eins zu eins vergleichbar mit den weitgehend säkularen Gesellschaften Europas.

Hier könnte ein Staat – die Türkei – ins Spiel kommen. Sie hat Erfahrungen im Miteinander religiöser und säkular geprägter Lebenswelten, eingebettet in ein weitgehend demokratisches System. Besitzt die Türkei indes eine gewisse Akzeptanz in den arabischen Ländern? Und könnte die Türkei mit ihren gesellschaftspolitischen Eigenarten und ihrer religiös geprägten Regierungspartei als eine Art Schablone für islamisch geprägte Länder dienen?

Die Türkei bzw. ihre politische Führung – Ministerpräsident Erdogan, Staatspräsident Gül und Außenminister Davutoglu – sind in Maghreb und Maschrek gern gesehene und respektierte Gäste. Eine repräsentative Umfrage, welche vor den Freiheitsrevolten von der renommierten türkischen Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien TESEV in sechs arabischen Ländern (Ägypten, Saudi-Arabien, Libanon, Syrien, Irak, Jordanien und Iran) erhoben wurde, untermauert diesen Zuspruch. Mehr als 65 Prozent der Befragten sehen die funktionierende Symbiose von Islam und Demokratie als potentielles Muster für ihren Staat. Die türkische Regierungspartei AKP ist sozusagen ein Prototyp einer regierungsfähigen islamisch-demokratischen Partei – sie stellt ein Produkt jahrzehntelanger politischer und besonders ideologischer Emanzipation dar.

Ihre Wurzeln hat die AKP in den islamistischen Parteien des Vaters des türkischen politischen Islams, Necmettin Erbakans. Erdogan und Gül emanzipierten sich Ende der neunziger Jahre von Erbakan und schworen, zumindest öffentlich, dem politischen Islam ab. Die Gründer der AKP erkannten, dass sie im Rahmen der Demokratie ihre politischen Visionen auf eine breitere Legitimationsbasis stellen konnten und somit auch erfolgversprechendere Machtoptionen hatten. Ein theokratischer Staat im Sinne Erbakans findet jedoch in der türkischen Gesellschaft nur sehr wenig Rückhalt. Nur durch ihre demokratische Emanzipation erlangte die AKP Akzeptanz und Legitimation in der eigenen Bevölkerung sowie der europäischen Politik. Wie selbstbewusst die Regierungspartei war, stellte sie 2003 unter Beweis. Sie verweigerte unter Verweis auf einen demokratisch gefällten Parlamentsbeschluss den USA bei der Irakinvasion die Gefolgschaft. Die türkische Demokratie düpierte die Amerikaner und bescherte den Türken eine nie dagewesene arabische Achtung. Aufgrund der Verbindung von islamischer Lebensweise und demokratischen Strukturen sowie der selbstbewussten und beachteten Außenpolitik betrachten viele Araber die Türkei auf staatlicher und politischer Ebene als ein erstrebenswertes Vorbild.

Neben dem geachteten Staats- und Regierungsmodell besitzt besonders Recep Tayyip Erdogan hohes Ansehen im islamischen Kulturkreis. Er ist nicht nur in der Türkei aufgrund seiner Herkunft und seines politischen Erfolgs eine Art Volkstribun, sondern auch unter den Arabern wegen seiner kritischen Israelpolitik beliebt. Die Kemalisten hatten traditionell gute Beziehungen zum jüdisch geprägten Israel, was in der arabischen Welt stets auf Unverständnis stieß. Erst Erdogan rüttelte am pragmatischen Dogma der türkisch-israelischen Außenpolitik und spielte sich zum Schutzpatron palästinensischer Interessen auf. Seitdem gewinnen er und seine Regierung im Orient zunehmend an politischem Gewicht und Einfluss.

Weiterhin kann die türkische Republik im wirtschaftlichen Bereich punkten. Die AKP-Regierung übernahm die wirtschaftlichen Altlasten der Vorgängerregierungen, welchen Misswirtschaft, Korruption und einer extremen Wirtschaftskrise des Jahreswechsels 2000/2001 geschuldet waren. Unisono mit dem Wahlsieg der AKP 2002 prosperierte auch die Wirtschaft. Das türkische Pro-Kopf-Einkommen stieg innerhalb von neun Jahren von 2160 Dollar auf mehr als 10000 Dollar. Im Vergleich dazu liegt Ägypten heute auf dem Niveau, auf dem die Türkei vor neun Jahren stand. Diese Entwicklung fußt unter anderem auf einem überproportionalen Anstieg türkischer Importe in die arabischen Länder. Die Wirtschaftskontakte zogen zudem eine partielle Aufhebung der Visapflicht nach sich. Diese türkische wirtschaftliche Erfolgsgeschichte und der gesellschaftliche Mehrwert lassen sich auch auf die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft zurückführen – ein entscheidendes Detail, welches den arabischen Ländern und ihren Herrschern nicht verborgen bleibt. Somit beeinflusst die Türkei unterschwellig ihre Wirtschaftspartner, ganz nach dem Sprichwort: Wandel durch Handel.

Aber auch die mediale Präsenz der Türkei in arabischen Ländern begünstigt das Ansehen des Landes. Durch von hiesiger Warte oft banal erscheinende türkische Fernsehserien und -filme wird ein fortschrittliches Gesellschaftsbild vermittelt, welches für viele Menschen in den arabischen Empfängerländern als begehrenswert gilt. Diese mediale Werbung führte dazu, dass die Türkei vermehrt Touristen aus arabischen Ländern anzieht und auf diesem Wege ein weiterer Wissens- und Kulturtransfer stattfindet.

Unter der islamisch geprägten Regierungspartei AKP hat sich die Türkei im arabischen Raum auf vielfältige Weise Respekt verschafft. Viele Befürworter des türkischen Weges wissen, dass die einzelnen Errungenschaften, wie zum Beispiel breites Wirtschaftswachstum, gesellschaftliche und religiöse Freiheit und eine liberalere politische Diskussionskultur, nicht ohne ein demokratisches Fundament zu erreichen sind.

Könnte die türkische Demokratie demnach ein Wegweiser für die Menschen im Maghreb und dem Nahen Osten sein? Die Akzeptanz einer solchen Gesellschaftsform, wie sie die Türkei aufweist, ist laut der TESEV-Umfrage gegeben. Anscheinend findet in einigen islamisch arabischen Gesellschaften ein Umdenken statt. Lange standen sich die säkular-europäischen und islamisch-arabischen Gesellschaftsordnungen unvereinbar gegenüber. Die Türkei schaffte es jedoch, unter ihrer islamisch geprägten Regierung einen Mittelweg zu beschreiten. Ein demokratischer Rahmen, in dem der Islam sehr wohl seinen legitimen Platz einnimmt. Natürlich gibt es in der türkischen Demokratie noch Defizite, aber sie befindet sich auf dem prosperierenden Weg. Die Türkei und ihre Regierungspartei könnten daher als eine Art Schablone, zumindest aber als Inspiration, für die demokratisch gesinnten Menschen in den arabischen Ländern dienen.

Trotzdem bleibt es abzuwarten, wie die Regimetreuen und islamistischen Gruppierungen reagieren. Sie geraten durch demokratische Entwicklungen in existenzielle Bedrängnis. Daher ist es entscheidend, dass die EU, die USA und besonders die Türkei die progressiven Kräfte unterstützen, damit nicht nach dem Rausch der Freiheitsrevolten schnell reaktionäre Ernüchterung eintritt.

Eine „türkische“ Entwicklung der arabischen Länder wäre nicht nur ein Gewinn für die Menschen vor Ort, sondern auch ein Gewinn für Europa. Die außenpolitischen Beziehungen müssten sich nur marginal verändern. Die Europäische Union könnte dann die demokratisch gewählten Präsidenten hofieren, die Flüchtlingswellen könnten effektiver und an ihrer Wurzel behandelt werden, die Öllieferungen hätten weiterhin Bestand und All-Inclusive-Ferien könnten dann mit weniger Bedenken genossen werden.

Benjamin Wochnik ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er befasst sich u.a. mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Türkei.