Aufruf zur Empörung

[nachgefragt]: Robert Lorenz erläutert, warum  es sich bei dem französischen Büchlein „Empört Euch!“ um ein politisches Manifest handelt.

Das Ende Oktober 2010 in Frankreich erschiene Buch „Indignez-Vous!“, das dort mittlerweile in mehr als zehn Auflagen erschienen ist, wurde inzwischen auch ins Deutsche übersetzt. Im Ullstein-Verlag erschien es in ähnlicher Aufmachung wie in Frankreich unter dem Titel „Empört euch!“. Im Interview erklärt Robert Lorenz, Mitherausgeber des Buches „Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells“, welche Charakteristika das Buch zu einem Manifest machen und wie sein Erfolg erklärbar ist. Auf die einleitende und wichtigste Frage des Gesprächs, ob es sich dabei um ein Manifest handele, antwortet er ohne Umschweife mit „ja“.

Warum also handelt es sich bei „Empört euch!“ um ein politisches Manifest?

Das Buch weist einige wichtige Merkmale auf, die wir in unserem Sammelband als charakteristisch für Manifeste entschlüsselt haben: Zunächst beinhaltet das Buch eine starke Kritik am gegenwärtigen Zustand sowie eine Aufforderung zu alternativem Handeln, um die benannten Probleme zu beheben und Fehler zu korrigieren.

Wie äußert der Autor Stéphane Hessel das konkret?

Die Kritik an diversen als Schwachstellen der französischen Gesellschaft empfundenen Punkten impliziert jeweils den Aufruf zur Veränderung. Unter anderem warnt Hessel vor der Bedrohung der  sozialen Errungenschaften, welche die Résistance erkämpfte, er kritisiert die allumfassende Macht des Geldes, die korrumpierten, klüngelnden Staatseliten und die hohe und immer noch wachsende soziale Ungleichheit. Darüber, so der Autor, müssten sich die Franzosen nun empören.

Aber ist denn die Aufforderung zur Empörung nicht etwas schwammig, reicht dies als Handlungsaufforderung?

Ja und nein zugleich. Wie schon gesagt, enthält seine Kritik jeweils die Aufforderung zur Veränderung, zur Alternative. Außerdem folgert er aus seiner eigenen Biographie, dass Empörung der Ursprung sozialen und politischen Engagements sei.

Welche weiteren Kriterien zur Bestimmung eines Manifests erfüllt das Buch?

Der Autor benennt klar und deutlich die Adressaten seiner Kritik: die gesellschaftlichen Eliten; außerdem hat der Aufruf eine offensichtliche Zielgruppe: die Franzosen.

Worauf ist deiner Meinung nach der enorme Erfolg des Buchs zurückzuführen?

Hessel spricht in seinem Buch universelle Themen an. Dadurch wirdeine große und breite Betroffenheit erzeugt – eigentlich gibt es niemanden, der sich nicht angesprochen fühlen kann.

Zudem spielt die Persönlichkeit des Manifestanten eine besondere Rolle. Da er das Manifest allein verfasst hat, fokussiert sich alle Aufmerksamkeit auf ihn. (Obwohl _–  wie hinzugefügt werden muss – unsere Beobachtungen gezeigt haben, dass Alleinunterzeichner bei Manifesten eher unüblich sind.)   Er als Person verkörpert diverse zentrale Merkmale seines Manifests. Als relativ bekannte Person des öffentlichen Lebens hat er gute Beziehungen zu den Medien, sodass die Rezeption des Buches gesichert ist. Ganz besonders wichtig ist aber, dass er als moralische Instanz auftreten kann. Durch seinen biographischen Hintergrund als Résistance-Kämpfer, Mitverfasser der Menschenrechtserklärung und ehemaliger KZ-Häftling hat er eine biographisch abgeleitete Autorität. Indem er die Gefährdung der Errungenschaften der Résistance kritisiert, tritt er für etwas ein, für das er selbst gekämpft hat. Sein Erfahrungshintergrund – er erlebte mehrere politische Systeme und mehrfach bewegte Zeiten – beschert ihm eine hohe Glaubwürdigkeit.

Gleichzeitig fällt das Buch in eine Zeit, in der Frankreichs Gesellschaft in einer – schon seit Jahren diagnostizierten – Krise steckt. Die Franzosen sind laut Umfragen das pessimistischste Volk auf der Erde, jeder hat das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Hessel drückt aus, was viele denken. Er deckt einen Bedarf nach Orientierung und Anleitung, ist ein Idol, das Alternativen weisen kann.

Hat der Erfolg auch etwas mit der Publikationsform zu tun? Während ein weiteres französisches Manifest, „Der kommende Aufstand“, hauptsächlich via Internet verbreitet wurde, wählte Hessel eine sehr klassische Verbreitungsform.

Die hohe Erreichbarkeit des Buches ist sicherlich ein wichtiger Aspekt. Dadurch, dass es in Bahnhofs- und Metrokiosken für nur drei Euro verkauft wird, kann es schnell von jedem konsumiert werden. Auch das praktische Format erlaubt ein Kaufverhalten ähnlich wie bei einer Zeitschrift. Existenz und Inhalte des Buches sprechen sich dadurch sehr rasch herum, es gibt einen starken Multiplikatoreffekt: Wer das Buch morgens in der Metro gelesen hat, berichtet seinen Kollegen am Arbeitsplatz davon. Im Internet hingegen wäre es möglicherweise untergegangen. Und auf die Verbreitung über eine Zeitung – die Mühen, einen solchen Text dort platzieren zu können, die aufwändige Überzeugung der Herausgeber beispielsweise ­– war der Autor durch die Buchform ebenfalls nicht angewiesen.

Wäre ein ähnlich durchschlagendes Manifest auch in Deutschland denkbar?

Es wäre gar kein Wunder, wenn ein ähnliches Werk in Deutschland erscheinen würde. Einerseits gibt es durch den in Frankreich stattfindenden Diskurs eine Bewusstseinsschärfung, begünstigt auch durch den medialen Erfolg des Autoren, der sogar auf Deutsch TV-Interviews gibt. Außerdem existiert natürlich in Deutschland ebenfalls ein großes Bedürfnis, das eigene Unbehagen zu artikulieren. Auch wenn nicht alle Symptome die gleichen sind, steckt auch die deutsche Gesellschaft in der Krise. Unzufriedenheit gibt es zu beiden Seiten des Rheins. Unkonventionelle Protestformen und Möglichkeiten zum Ausdruck werden auch in Deutschland gesucht.

Allerdings gilt für ein derartiges Manifest: Es ist fraglich, ob es allein reichen würde, sich in die Tradition Hessels zu stellen, um eine ähnliche Verbreitung zu finden. Dieser mag in Frankreich bekannt sein, für Deutschland müsste eine ähnliche Persönlichkeit gefunden werden – vermutlich würde es in diesem Falle, wie bei vielen anderen Manifesten auch, also auf die Popularität und Glaubwürdigkeit der Unterzeichner ankommen.

Das Interview führte Daniela Kallinich.

Robert Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Das Manifest von Stéphane Hessel ist im Ullstein-Verlag erschienen. Mehr Informationen finden sich hier.