[gastbeitrag]: Thorsten Hasche über die schwierigen außenpolitischen wie innenpolitischen Konstellationen der Türkei im Jahr 2017.
In der Türkei vollziehen sich die politischen Entwicklungen zurzeit in einer Geschwindigkeit und Intensität, die sich kaum noch erfassen lassen. Die alte, kemalistische Republik Türkei scheint es nicht mehr zu geben – so stark sind die institutionellen und politisch-kulturellen Veränderungen unter der seit 2002 ununterbrochen und allein regierenden Partei für Aufschwung und Gerechtigkeit (AKP) vorangeschritten. Von Europa und den USA aus wurde der rapide Aufstieg der AKP in den frühen 2000er Jahren zunächst sehr skeptisch verfolgt; doch wegen ihres strikten wirtschaftsliberalen Reformkurses und einer pro-europäischen Haltung wurde die Türkei unter der AKP zum Musterland für Westasien („Naher Osten“) und Nordafrika auserkoren. Endlich, so der langjährige Tenor in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft, sei eine funktionierende Mischung aus westlicher Demokratie und Liberalismus, ökonomischer Öffnung und konservativ-islamischen Werten gefunden worden, mithin entwickle sich die Türkei zur Brücke zwischen „Okzident“ und „Orient“.
Doch seit den revidierten Parlamentswahlen im Juni 2015, aus denen die AKP eigentlich als Verlierer hervorgegangen war, weil sie einen Regierungspartner benötigt hätte, veränderte sich die Situation in und um die Türkei rapide. Der wiederaufflammende militärische Konflikt mit den Kurden, die zahlreichen Terroranschläge des selbsternannten „Islamischen Staates“ auf türkischem Staatsgebiet sowie der direkte militärische Eingriff der Türkei in die Konflikte in Nordsyrien und im Nordirak lassen von einer regionalen Vorbildfunktion kaum noch etwas erkennen.[1] Vielmehr: Von der transnationalen Aufbruchsstimmung des „Arabischen Frühlings“ im Jahr 2011, an dessen Spitze sich Recep Tayyip Erdoğan, damals noch als Ministerpräsident, gerne gesehen hatte – bis ihm die Proteste 2013 um den Gezi-Park in Istanbul sinnbildlich „zu bunt“ wurden –, sind nicht einmal mehr Spuren zu erkennen.[2] Um diesen grundlegenden Wandel zu verstehen, muss man die innen- sowie außenpolitischen Konstellationen analysieren, von denen die Türkei seit dem Jahrtausendwechsel betroffen ist.
Innenpolitisch profitierte die AKP Anfang der 2000er Jahre enorm von der damaligen wirtschaftlichen Schwäche der Türkei, die sich Ende der 1990er Jahre in einer handfesten Wirtschaftskrise niedergeschlagen hatte. Hinzu kamen Korruption in den höchsten Regierungskreisen und der anhaltende, blutige Konflikt in den Kurdengebieten der Türkei. So wurde der Sieg der AKP auch als „Revolution Anatoliens“ gegen die „kemalistische Elite“ gesehen und verschaffte Erdoğan seinen Ruf als Messias der gläubigen Landbevölkerung der Türkei.
Doch die institutionellen und politisch-kulturellen Kämpfe der AKP gegen den alten Machtapparat – den deep state aus Bürokratie, Richterschaft und Militär, der vonseiten der EU als Meilenstein der Demokratisierung gesehen wurde – legten, rückblickend, lediglich den Grundstein für den Ausbau der eigenen Machtfülle.[3] Kurzum: Der – so will ich es hier nennen – kemalistischen Versuchung, einen machtvollen Zentralstaat samt umfassender Verwaltung, dem größten Militär aller NATO-Staaten und gewaltiger Sicherheitsapparate zur Umsetzung der eigenen Machtambitionen zu nutzen, konnten Erdoğan und seine Getreuen in der AKP nicht widerstehen.
Außenpolitisch hatte die AKP bereits unter der Ägide des inzwischen geschassten Ahmet Davutoğlu, der ab dem ersten Wahlsieg der AKP vom Professor für Internationale Politik sukzessive zum außenpolitischen Chefstrategen, zum Außenminister und schließlich zum Ministerpräsidenten von Erdoğans Gnaden aufgestiegen war, an den Grundpfeilern der türkischen Westbindung gerüttelt. Gerade zu Beginn des „Arabischen Frühlings“ wollte die Türkei sich unter dem Banner des Neo-Osmanismus zur unumstößlichen, sunnitischen Führungsmacht aufschwingen und sah sich zusammen mit der ägyptischen Muslimbruderschaft bereits an der Spitze des neuen islamistischen Mainstreams.
Doch damals hatte die Türkei die Rechnung ohne die konservativ-wahhabitische Gegenrevolution Saudi-Arabiens gemacht.[4] Als dann das Nachbarland Syrien immer weiter im Chaos eines internationalisierten Bürgerkrieges versank, wodurch auch der Nordirak destabilisiert und der Aufstieg der derzeitig grausamsten und gefährlichsten dschihadistischen Kampfgruppe, des „Islamischen Staats“, ermöglicht wurde, hoffte Ankara noch immer, durch einen laxen Umgang mit dschihadistischen Kampfgruppen an der eigenen Grenze zu Syrien das Asad-Regime stürzen zu können.[5]
Erst im Jahr 2015, als die Stärke der kurdischen Kräfte in Syrien und im Irak die territoriale Integrität der Türkei grundsätzlich herausforderte und der Iran und die libanesische Hisbollah zur neuen schiitischen Schutzmacht in Syrien aufgestiegen waren, begann die Türkei, die eigenen Grenzen stärker zu schützen und militärisch direkt zu intervenieren. Ankara musste aber auch feststellen, dass weder die EU noch die USA sich klar zum türkischen Kurs bekannten oder gewillt waren, mit größeren Truppenverbänden zu intervenieren. Ob sich der jüngere Schulterschluss Ankaras mit Russland als Garant für Stabilität erweisen wird, bleibt durchaus abzuwarten.
Folglich ist zu erwarten, dass Erdoğan und die AKP von der Einführung eines Präsidialsystems kaum noch abzubringen sind – selbst wenn sie dafür Stimmen der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) benötigen, um im kommenden Frühjahr ein entsprechendes Referendum zu initiieren. Im Falle eines Erfolgs wäre die Türkei auf dem Weg zu einer islamistisch-kemalistischen Synthese, die den autoritären Zentralstaat des Mustafa Kemal Pascha wieder aufleben ließe, dabei jedoch doch das Ziel der gesellschaftspolitischen Umsetzung eines neuen islamistischen Mainstreams verfolgen würde.
Um diesem Prozess entgegenzuwirken, fehlen der EU jedoch effektive außenpolitische Hebel; und die kommende Trump-Administration ist für ihre Bewunderung politisch-autoritärer Führungsstile bereits recht bekannt. Mit Blick auf die international schwierige Lage der Türkei lässt sich also nur hoffen, dass der Rückzug der USA aus der Region den Raum öffnet für eine neue, regionale Ordnung, die zwar nicht mehr nach westlichen Werten operiert, jedoch wenigstens das böte, was das wahrscheinlich kostbarste Gut des Europas der Frühen Neuzeit gewesen ist: internationale politische Stabilität.[6]
Dr. Thorsten Hasche ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Dort forscht und lehrt er im Schnittfeld der Internationalen Politischen Theorie.
[1] Vgl. Hasche, Thorsten: Der Lackmustest der Demokratie steht erst noch bevor, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 10.06.2015, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/der-lackmustest-der-demokratie-steht-erst-noch-bevor [eingesehen am 05.01.2017].
[2] Vgl. Tuğal, Cihan: The Fall of the Turkish Model. How the Arab Uprisings Brought Down Islamic Liberalism, London 2016.
[3] Vgl. Karaveli, Halil: Erdogan’s Journey. Conservatism and Authoritarianism in Turkey, in: Foreign Affairs, November/December 2016, URL: https://www.foreignaffairs.com/articles/turkey/2016-10-17/erdogan-s-journey [eingesehen am 04.01.2017].
[4] Vgl. Steinberg, Guido, Anführer der Gegenrevolution. Saudi-Arabien und der arabische Frühling, SWP Studie, Berlin 2014, URL: https://www.swp-berlin.org/publikation/saudi-arabien-und-der-arabische-fruehling/ [eingesehen am 04.01.2017].
[5] Vgl. Hinnebusch, Raymond: State De-Construction in Iraq and Syria, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 57 (2016), H. 4, S. 560–585.
[6] Vgl. Axworthy, Michael/Milton, Patrick: A Westphalian Peace for the Middle East. Why an Old Framework Could Work, in: Foreign Affairs, 10.10.2016, URL: https://www.foreignaffairs.com/articles/europe/2016-10-10/westphalian-peace-middle-east [eingesehen am 04.01.2017].