Tagung: Protest – auf der Straße und anderswo

Beitrag verfasst von: Alexander Hensel; Julia Zilles

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[kommentiert]: Alexander Hensel und Julia Zilles über die Tagung „Auf die Straße!“ der Bundeszentrale für politische Bildung

Politische Proteste verlaufen zyklisch: Sie kommen und gehen, sind schwer kalkulierbar und unstet. Dennoch erfreuen sich Proteste höchster Beliebtheit. Waren sie in der alten „Bewegungsrepublik Deutschland“[1] lange Spielfeld der Jungen, Alternativen und Radikalen, hat sich Protest hierzulande normalisiert. Seit den 2010er Jahren ist ein breites Panorama diverser neuer Bürgerproteste zu bestaunen.[2] Doch die partizipatorische Euphorie dieser Jahre ist längst gebrochen: Seit dem Aufstieg der Pegida-Bewegung zeigten sich zunehmend auch die Ambivalenzen und Schattenseiten von Protest und Zivilgesellschaft.[3] Angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der Protest gesellschaftlich akzeptiert, praktiziert und zelebriert wird, gewinnt überdies die Frage nach seiner Funktion und Bedeutung in parlamentarischen Demokratien neue Aktualität. Dieser und anderen Fragen widmete sich die Tagung „Auf die Straße! Politischer Protest in Deutschland“ der Bundeszentrale für politische Bildung.

Auf deren Einladung versammelten sich am 17. und 18. Juni 2019 im exquisiten Ambiente eines Hamburger Tagungshotels ProtestforscherInnen und Protestierende verschiedener Generationen sowie VertreterInnen aus Journalismus und politischer Bildung. Das Programm der Fachtagung war überaus breit gefächert und widmete sich sowohl grundlegenden Perspektiven auf Protest als auch konkreten Protestereignissen und Bewegungen. Die Panels waren dabei so vielfältig, dass es vielen TeilnehmerInnen sichtlich schwerfiel, sich zu entscheiden. Anders als oftmals auf akademischen Fachtagungen bot sich in Diskussionsrunden viel Platz für intensiven Austausch zwischen Theorie und Praxis und auch dem Gestern und Heute politischer Proteste.

Den Eröffnungsvortrag hielt der Berliner Soziologe Prof. Dr. Dieter Rucht (IPB), den die Größe und Vielfalt der Tagung sichtlich beeindruckte. Er skizzierte zentrale Entwicklungen des politischen Protests in Deutschland. Dieser sei im internationalen Vergleich stark von der Erfahrung des zweiten Weltkriegs sowie den hierzulande besonders breit entwickelten Neuen Sozialen Bewegungen geprägt. Rucht umriss ebenso ambivalente Entwicklungen im Bereich der Proteste: Als überwiegend von akademisch gebildeten Mittelschichten getragene Partizipationsform seien Proteste sozial hochselektiv; seit den 1990er Jahren seien überdies Proteste rechter Gruppierungen deutlich gestiegen, die sich zudem ehemals linke Protestsymbole und Strategien angeeignet hätten. Auch gehe die zunehmende Professionalisierung von Protest durch NGOs oftmals mit einer straffen organisatorischen Hierarchisierung einher.

Mit deutscher Protestgeschichte befasste sich der Historiker Prof. Dr. Philipp Gassert (Uni Mannheim).[4] Die angesichts des massiven Medienwandels ungewöhnliche Zähigkeit des Formats des Straßenprotests erklärte er mit der fortwährenden Notwendigkeit, Protest physisch sichtbar und erfahrbar zu machen – sowie aus der historischen Prägekraft von Protestbildern und -posen. Anhand ausgewählter deutscher Protestereignisse des 20. Jahrhunderts machte Gassert auf Wandlungsprozesse aufmerksam, wie etwa die zunehmende Medienorientierung von Protest seit 1968 oder die Entfaltung neuer Massenproteste in den 1980er Jahren. Insgesamt ziele Protest aber keineswegs immer auf Wandel, Veränderung oder gar Umsturz, sondern trete ebenso oft beharrend und staatstragend auf. Protest fungiere daher weniger als Motor des gesellschaftlichen Wandels, sondern sei eher als Resonanzraum und Indikator für Probleme und Defizite zu begreifen.

Graphic Recording der Auftaktvorträge, Foto: Anne-Kathrin Meinhard

Um historische Perspektiven ging es auch in den sich anschließenden Panels. So analysierte Dr. Alexander Leistner (Uni Leipzig) etwa die Bedeutung der historischen Protesterfahrung der Wende-Generation von 1989 für heutige Proteste gegen die Regierung Merkel. In der anschließenden Diskussion zeigte sich, wie intensiv und polarisiert der Deutungskampf um die damaligen Ereignisse aktuell vor allem im Osten der Republik geführt wird. Historisch vergleichend war auch das Panel „Aus Protest wird Partei“ angelegt, in dem PD. Dr. Andreas Pettenkofer und Alexander Hensel (Uni Göttingen) die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der frühen Grünen und heutigen AfD diskutierten. Während Pettenkofer die politische Integration der Grünen rückblickend vor allem als Ergebnis sich durchsetzender innerparteilicher Diskursfacetten erklärte, unterstrich Hensel die mit dem Parlamentseintritt auftretenden neuen Zwänge und typischen Perspektivverschiebungen von Protestparteien.

Ein wiederkehrendes Element vieler Diskussionen waren die Fragen nach der Legitimität von Protesten in der parlamentarischen Demokratie sowie nach der Erfüllbarkeit hoher Erwartungen an die Ergebnisse von Protesten. Hierum ging es auch in der Podiumsdiskussion „‚Vorsicht, seltene Fledermaus!‘ Verunmöglichen Proteste Großprojekte?“. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Volker Kronenberg präsentierte ein eher positives Bild von Protesten, verwies auf ein produktives und letztlich konfliktregelndes Zusammenspiel von Protest und parlamentarischer Demokratie sowie Politik und protestierenden BürgerInnen. Die ForscherInnen Dr. Anna-Lena Schönauer (Uni Bochum) und Julia Zilles (Uni Göttingen) hielten mit Beispielen von Protesten gegen Industrieprojekte und die Energiewende dagegen.[5] Mit Hinweis auf den auch aus dem Publikum geäußerten Vorwurf der Scheinpartizipation verwiesen sie auf ein grundlegendes Problem vieler politischer Proteste: konfliktfrei und von allen akzeptiert ließen sich gerade Infrastrukturprojekte nicht umsetzen. Deswegen sei es auch nicht zielführend, die Akzeptanz aller Betroffenen als politisches Ziel zu formulieren. Vielmehr gehe es für Politik darum, lokale Proteste und Widerstände als Indikator dafür zu verstehen, dass lokale negative Auswirkungen anerkannt und gegebenenfalls kompensiert werden müssen. Dabei müsse ehrlich aufgezeigt werden, über welche Aspekte mitentschieden werden kann oder eben auch nicht.

Nachdem sich viele Panels und Diskussionen mit vergangenen Protestentwicklungen auseinandersetzten, endete die Tagung mit einem Blick auf die unmittelbare Gegenwart und Zukunft von Protesten. Im Zentrum standen dabei SchülerInnenproteste, u. a. der Fridays for Future-Bewegung, die in den letzten Monaten erstaunlich hohe mediale Aufmerksamkeit und umfangreiche politische Reaktionen erzeugen konnten. Dabei übte die hessische Landeschulsprecherin Lou-Marleen Apphuhn am Umgang der Politik mit den SchülerInnen eine scharfe Kritik: Oftmals würden ihre Anliegen aufgrund des jungen Alters der AktivistInnen nicht hinreichend ernstgenommen oder ihnen aufgrund des systematischen Verstoßes gegen die Schulpflicht Repressionen angedroht. Die Darstellungen weiterer Fridays for Future-AktivistInnen offenbarten indes das beeindruckende Maß an Energie, Eloquenz und strategischem Weitblick, das die gegenwärtigen SchülerInnenproteste fraglos prägt und viele der Anwesenden merklich begeistert und versöhnlich aus der Tagung entließen.

 

Alexander Hensel und Julia Zilles sind wissenschaftliche Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Vgl. Rucht, Dieter/Roth, Roland: Bewegungsrepublik Deutschland, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2008, S. 100-109.

[2] Vgl. Marg, Stine/Geiges, Lars/Butzlaff, Felix/Walter, Franz (Hrsg.): Die neue Macht der Bürger. Was motiviert die Protestbewegungen? Reinbeck bei Hamburg 2013, S. 301ff.

[3] Vgl. Geiges, Lars/Marg, Stine/Walter, Franz: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? Bielefeld 2015, S. 192ff.

[4] Vgl. Gassert, Philipp: Bewegte Gesellschaft. Deutsche Protestgeschichte seit 1945. Stuttgart 1945.

[5] Vgl. Hoeft, Christoph/Messinger-Zimmer, Sören/Zilles, Julia (Hrsg.): Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende. Lokale Konflikte um Windkraft, Stromtrassen und Fracking, Bielefeld 2017.