Krieg und Fliegen. Hundert Jahre nach Versailles

Beitrag verfasst von: Katharina Trittel
[analysiert]: Die Versailler Restriktionen und der Symbolwert des Fliegens in der Weimarer Republik. Von Katharina Trittel

1919 war, so lässt sich noch hundert Jahre später konstatieren, ein Schicksalsjahr – auch für die Deutschen. Die „Schmach von Versailles“ – unter dieser Chiffre wurde die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages im Juni des Jahres fortan zum Ausgangs- und Kristallisationspunkt nicht nur politischer Bestrebungen, sondern auch zum Movens, bestimmte Mythen zu aktualisieren mit dem Ziel, als „deutsches Volk“ zurück zu Selbstbewusstsein und Weltgeltung zu gelangen, mithin: das eigene nationale Selbstverständnis wieder mit Potenz zu füllen.[1]

Als Kämpfer für eine „nationale Utopie“ boten sich die Flieger besonders an, da sie gleich mehrere Komponenten zu einem Gefühl verdichteten, das der Historiker Peter Fritzsche treffend als „airmindedness“[2] beschrieben hat: ein Habitus, der Potenz, Fortschritt, das Streben nach Entgrenzung und einen Hauch von Mythos birgt; eine Melange, die sich ganz wesentlich in der auch von Ernst Jünger fantasierten Gestalt eines „neuen Menschen“ wiederfindet. Dieser „neue Mensch“ – kaltblütig, kämpferisch, heroisch und deshalb in der Lage, die „Fesseln von Versailles“ zu sprengen –  kann als „Obsession des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet werden.[3]

Nach Kriegsende wurden die deutschen Fliegereinheiten im Zuge der Bestimmungen des Versailler Vertrages aufgelöst und die Hoffnung auf den Erhalt zumindest einer kleinen Luftwaffe endgültig zerschlagen. Nur 100.000 Mann wurden der Reichswehr zugestanden, unter ihnen kein einziger Flieger. Das Verbot einer eigenen Luftwaffe wurde später allerdings erfolgreich unterlaufen, galt es den Fliegern doch, sich gegen den „schmählichen Vertrag von Versailles“ zu behaupten und „Ehre und Gleichberechtigung“[4] wiederzuerlangen. Selbst noch 1941 hielten führende Luftfahrtforscher an der Behauptung fest, mit dem Aufbau der Luftwaffe lediglich den Status quo vor Versailles wieder herstellen zu wollen, eine Forderung, die sie für „moralisch und staatsrechtlich tief begründet“[5] hielten. Die Luftwaffe könne in ihrer Lesart nicht nur für „Gerechtigkeit in einem nationalen Sinne“ sorgen, sondern auch einen „Fortschritt der menschlichen Kultur“ erreichen. Diese Formulierung zeigt nicht nur, wie tief die Kränkung saß, wie sehr man sich moralisch im Recht sah, sondern auch, wie stark der Gedanke der Revision der Versailler Bestimmungen, also auch: die Weiterentwicklung der Luftfahrt und -waffe, mit der Idee des „Fortschritts der menschlichen Kultur“ verbunden war – und das, wie gezeigt werden soll, bereits vor 1933 in einem deutsch-nationalen, sozialdarwinistischen Sinne.

Um zu verstehen, welches Faszinosum das Fliegen schon seit der Jahrhundertwende barg, muss man sich vergegenwärtigen, dass sich in dieser Zeit – unter anderem in der Technik und der Wissenschaft – die Maßstäbe rasant verschoben, sich ein strikt naturwissenschaftliches Denken Bahn brach, und die „Neuerfindung der Welt“[6] um 1900 ganz unter dem Signum des Fortschritts stand. Entsprechend groß war die Erwartungshaltung an Technisierungsprozesse. Das Gefühl der unbegrenzten Möglichkeiten beschreibt 1893 der Heidelberger Neurologe Wilhelm Erb: „,Wir fliegen mit der Geschwindigkeit des Windes durch ganze Weltteile, wir sprechen direkt oder indirekt mit unseren Antipoden‘“, allerdings: „Genau genommen ‚flog‘ man noch nicht, und der Berliner konnte damals noch nicht einmal mit London, geschweige denn mit seinen ‚Antipoden‘ telefonieren; aber der Horizont der technischen Entwicklung hatte sich in kurzer Zeit gewaltig erweitert, und dies war für die psychische Wirkung der Technik entscheidend.“[7]

Der Historiker Christian Kehrt hat „technische Utopien als Mentalitätsbarometer der Zeitgenossen“[8] bezeichnet: Fortschritt bedeutete nicht nur eine Unterwerfung der Natur, deren scheinbar unverrückbare Grenzen nicht länger galten, sondern wurde in seiner Verknüpfung mit Technikutopien und mythischen Konnotationen immer wirkmächtiger und fand schließlich im Zeppelin seinen sinnbildlichen Ausdruck: „Der greise Graf wurde zum Symbol nationaler Leistungsfähigkeit, zum Übermenschen und Erlöser zugleich stilisiert. Die epiphane spätwilhelminische Gesellschaft fand den Helden, den sie so verzweifelt gesucht hatte.“[9]

In dem zeitgenössischen Topos des „Kampfes ums Dasein“ fiel dann der wieder aufkeimende Nationalismus auf einen günstigen Nährboden und beeinflusste ganz wesentlich die Stimmungslage beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Vokabeln wie „Rasse“ und „Blut“, die Eingang in die Deutungsschemata der Deutschen fanden, bahnten sich nun rücksichtlos ihren Weg in den Diskurs und verhalfen sozialdarwinistischen und rassehygienischen Konzepten zur Konjunktur. Hinzu kam, dass Technik nicht nur im Alltag immer präsenter, sondern auch Gegenstand einer kulturell vermittelten öffentlichen Popularisierung wurde. Die Flugbegeisterung drang in alle Kreise der Bevölkerung ein und speiste sich vor allem aus dem Mythos von der „Eroberung der Luft“.

Ikarus ist das Sinnbild für den Traum des Fliegens. Sein Sturz wiederum steht symbolisch für die göttliche Bestrafung eines Übermütigen, der in Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und Übersteigung der eigenen Handlungsmöglichkeiten zu viel will und nach der Sonne greift. Ikarusbilder fanden auch ihre bauliche Manifestation: 1939 wurde auf der Wasserkuppe, einer Kultstätte der Segelflugbewegung in der Rhön, vom Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK) eine „Ehrenhalle“ eröffnet. Hier ruhte ein aufgebahrter Flieger aus Stein mit dem Leitspruch: „Opfer müssen gebracht werden“. Die Stilisierung der Flieger zu idealtypischen Helden war jedoch nichts spezifisch Nationalsozialistisches, sondern Ausfluss der schon früheren großen medialen Inszenierung der Luftfahrtbegeisterung. Wurden zunächst noch die Nüchternheit der Flieger und ihr einfacher Lebensstil besonders hervorgehoben, wurde dieses Bild rasch abgelöst von der Gestalt des dandyhaften Filous, der im Luxus schwelgt und für den eigene Regeln gelten. Um Namen wie Manfred von Richthofen oder Oswald Boelcke rankten sich Mythen, ihre Konterfeis schmückten Postkarten, für Boelcke wurde extra eine Opern-Arie umgeschrieben und auflagenstarke Memoiren oder Biografien nährten das Bild des verwegenen Fliegers, dem kein Opfer für sein Land zu groß war. Sie wurden überzeitliche „Kollektivsymbole, die verschiedene Diskursstränge verbanden und diachron traditionsbildend wirkten.“[10]

Doch selbst die als Helden imaginierten Flieger kehrten nach der Niederlage – obwohl ihre Flugbegeisterung den Ersten Weltkrieg überdauerte – auf der Suche nach ordnenden, sinnstiftenden Instanzen aus dem Krieg zurück und schlossen sich nicht selten Freikorps an. Diese Gruppen, denen auch politische Führungsfiguren wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht zum Opfer fielen, wurden vom Historiker Ulrich Herbert als Sammlung eines „neue[n,] militante[n] Rechtsextremismus“ gedeutet.[11] In einer breiten Kampagne schürte die Rechte die Legende der Unschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg, ebenso wie die schon seit Sommer 1918 kursierende „Dolchstoßlegende“. Dies zusammen bildete das Fundament eines deutschen Nationalismus, aus dem heraus man sich entschieden gegen Verhandlungen aussprach und auf Rache sann.

In den Freikorps sammelten sich in erster Linie junge Frontoffiziere, „die sich die Kriegsniederlage nicht eingestehen, ihren verletzten Nationalismus nicht bändigen, die verhasste ‚Linke‘ nicht im Besitz der Macht sehen wollten.“[12] Ähnlich wie der Begriff der „airmindedness“ erfuhr auch der des Freikorpsgeistes einen mythischen Anstrich als „etwas Ewiges, denn er soll soldatisch alles das verkörpern, was seit Entstehung der Welt an Tugenden von einem Soldaten verlangt worden ist“[13].

Die These, dass die Volksgemeinschaft des „Dritten Reichs“ als idealisierte Schicksalsgemeinschaft aus dem „Geist von 1914“ geboren worden sei[14], mag zu weit führen, doch bleibt richtig, dass der aufkeimende Nationalstolz 1914 alle gesellschaftlichen und politischen Unterschiede für einen Moment überlagerte; in Fritzsches Deutung war es der Augenblick, „in dem das Dritte Reich möglich wurde.“[15] Der Flieger und spätere Führer des Freikorps „Eiserne Schar Berthold“ erinnert sich: „Man war plötzlich wie eine große Familie. Das Fremde, das sonst über Menschen lagert, die sich nicht kennen, war ganz abgestreift. Man spricht gerade so miteinander, als ob man sich schon ewig lang kennen würde. […] Das nationale, völkische Empfinden war endlich durchgebrochen: die Liebe zu Deutschland!“[16] Die nationale Selbstaufopferung wurde zum Nukleus der sinnstiftenden Erzählung einer ganzen Generation: Begeisterungsfähigkeit, bedingungslos übersteigerte Gemeinschaftsideale und ein unbedingter Führungsanspruch, der die Grenzen des bis dato Möglichen verschieben würde, zeichnete diese jungen Menschen und gleichfalls die Flieger aus. Eine mythische Kraft barg auch die Vorstellung der wunderbaren Eroberung des Luftraumes im Krieg, an die später die Nationalsozialisten mühelos anknüpfen konnten, wenn sie den „Geist von 1914“ heraufbeschworen, der von einigen Zeitgenossen als „liminale Erfahrung“[17] empfunden worden war. Hier liegt ein entscheidendes Moment der Vergemeinschaftungsprozesse, die sich nicht nur mit der Begeisterung der jungen Generation für Technik und Krieg als sinnstiftendes Ereignis verbinden, sondern aus dem sich auch ein spezifischer Habitus der Flieger formte: das „fliegerische Gefühl“.

Für die Luftfahrtgemeinschaft war es nach Kriegsende naheliegend, die technischen Errungenschaften nun für den Aufbau einer zivilen Luftfahrt zu nutzen, doch beinhalteten die Restriktionen des Versailler Vertrages auch das demütigende Verbot zum Bau von Verkehrsflugzeugen. Indes: „Versuche, die Verbote zu unterlaufen, gab es zuhauf“, und sie galten als „nationale Heldentat“. Allerdings waren es gerade „diese teils geschickten, teils plump-dreisten Aktionen […], die den Alliierten die argumentative Munition für die Aufrechterhaltung der Restriktionen gaben. Auf diese Weise bildete sich ein Teufelskreis heraus. Je länger die Verbote unterlaufen wurden, desto schärfer wurden die Bestimmungen. Je härter wiederum die Verbote wurden und je länger sie dauerten, desto mehr fühlte sich die deutsche Luftfahrt im moralischen Recht, sie zu missachten.“[18] Eine Möglichkeit, die Verbote zu umgehen, war der Segelflug: „Das prickelnde Gefühl, auf verschwörerischen Pfaden zu wandeln und heroische Pioniertaten zu vollbringen, steckte alle Beteiligten gleichermaßen an. Der sich über Jahre hinweg entwickelnde Geist der Gemeinsamkeit“[19], die Tage auf der Wasserkuppe, gelten als sozialpsychologische Ursache für den großen Zusammenhalt, der die Flieger zeitlebens verband.

Die Segelflugbewegung belegt ganz wesentlich, wie Wissenschaft zur Projektionsfläche neuer nationaler Souveränität wurde und eine immense politische Aufladung erfuhr. Bei den Segelflugtagen auf der Wasserkuppe traf sich eine patriotische Gemeinschaft, in der mancher den gedanklichen Kern einer wahren Volksgemeinschaft ausmachte[20], denn der Segelflug mit all seinen Zuschreibungen bot eine für Sozialisten, Demokraten und Nationalsozialisten gleichermaßen elektrisierende Vision einer nationalen Gemeinschaft. Zudem entwickelten Begriffe wie „Volk“ und „Nation“ gesamtgesellschaftlich eine hohe Suggestivkraft und wurden über alle politischen Differenzen hinweg mehrheitsfähig. Gleichzeitig verfestigte sich hier manche Idee der Moderne und der Vorstellungswelt der Flieger: Leistung und Effizienz, Zusammenhalt und Disziplin. Das Flugzeug wurde zum Medium eines neuen deutschen Selbstbewusstseins als Symbol einer „Airminded nation“[21], das wiederum auf der Wasserkuppe seine bauliche Manifestation erfuhr. Dort sind die Fliegertopoi des Opfers und der Volksgemeinschaft in einem Denkmal verewigt, welches unmittelbar an das mythische Erbe der Weltkriegsflieger anknüpft: „Wir toten Flieger/Wurden Sieger/Durch uns allein/Volk/Fliege du wieder,/Und du wirst Sieger/Durch dich allein!“

Dass „das Volk“ wieder fliegen würde, im siegreichen und opferbereiten Sinne, schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein; die zu beobachtende Intensivierung der kulturellen Konstruktion der Flugbegeisterung im öffentlichen Diskurs, die an Mythen der Vorkriegszeit anknüpfte, aber darüber hinaus auch den Nationalsozialisten Bezugspunkte bot, gerade weil sie so umfassend und schichtenübergreifend war[22], trug dazu bei, dass Deutschland sich zusehends als „Nation von Fliegern“ begriff.[23] Airmindedness wirkte als tief wurzelndes „Wahrnehmungsmuster einer großen, Politik und Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft gleichermaßen prägenden Kraft der Luftfahrt“[24]. Von ihren Anfängen schon vor dem Ersten Weltkrieg, über die Verehrung der Fliegerhelden des Krieges und die nationalpolitisch aufgeladene Segelflugbewegung der Weimarer Republik bis zu ihrer Funktion der propagandistischen Vorbereitung auf den kommenden Luftkrieg im Nationalsozialismus – „Airmindedness“ stand für die Fähigkeit, „die neuen Spielarten der Macht, die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangen waren“, zu nutzen für eine „Wiedergeburt Deutschlands als moderne Militärmacht des 20. Jahrhunderts.“[25] Der Luftkrieg hatte eine Risikogemeinschaft geformt, hatte er doch die „deutsche Luftbesessenheit in ihrer extremsten Ausprägung“[26] augenfällig gemacht.

Insbesondere die politische Rechte argumentierte in der Weimarer Zeit scharf gegen das Verbot der Militärluftfahrt. An prominenter Stelle war es Ernst Jünger, der die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wachhielt und den Aufbau einer deutschen Luftwaffe forderte. Es ist kein Zufall, dass sich gerade Jünger als eindrücklicher Chronist des Weltkrieges mit dem Fliegerbild, seinem Mythos und dessen politischer Strahlkraft beschäftigte. Der Historiker Detlef Siegfried sieht darin eine Neuverhandlung der „Konturen der Nation“ um die militaristische oder zivile Prägung der Gesellschaft, in der um das Wesen des „Neuen Menschen“ gerungen wurde.[27] Er hat gleichfalls herausgearbeitet, dass vor allem Attribute, die für Maschine und Flieger gleichermaßen adäquat sind, das Idealbild komplettierten: Stahlharte Gesichtszüge, aber auch Nerven aus Stahl, Ruhe und Kaltblütigkeit lägen in Mensch und Material begründet, dem eine eigene Semantik zugeschrieben wurde: Der „progressive Nimbus des anorganischen Materials“[28] ließ das Metall als natürlichen Baustoff der so evozierten Stahlgestalt des modernen Helden und „Übermenschen“ erscheinen, der als Topos prominent Eingang in Jüngers Werk fand.[29] In seinen Augen – er selbst gehörte kurzfristig einem Freikorps an – habe die Technik den Menschen zu einer „neuen Rasse“ fortentwickelt, „die Maschinen baut und Maschinen vertraut, für die Maschinen kein seelenloses Eisen sind, sondern Motoren der Macht, die sie mit kalter Vernunft und heißem Blut beherrscht“[30]. Die Rückbindung an die Stahlnatur ist augenfällig: „Dieser Typus war eng mit dem Material verbunden, er nahm gleichsam die Eigenschaften des Stoffes in sich auf: Härte, Kälte, technische Präzision, Effizienz und Vernichtungskraft.“[31] Seine Führungseigenschaften sollten nicht nur die Maschine leiten, sondern auch die Gemeinschaft. Für Jünger, dessen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg passenderweise In Stahlgewittern heißen, sei der „neue Mensch“ eine „Gestalt im Werkanzuge [gewesen], mit dem wie in Stein geschnittenen Gesicht unter der Lederkappe. Pflicht und Dienst, Intelligenz und Fähigkeit, Charakter und Herz gaben diesem jungen Gesichte früh seine Form.“ [32]

Die Flieger galten als organische Verbindung von Mensch und Maschine – eine Symbiose, die als Schlüssel auch zum militärischen Erfolg gedeutet wurde und an das sozialdarwinistische Elitedenken anknüpfte, welches die Fähigkeit zum Fliegen in den rassistisch-biologistisch aufgeladenen Diskurs des „Überlebenskampfs der Völker“[33] übertrug. In diesem Sinne war die Flugbegeisterung, obwohl sie – wie beispielsweise Berthold Brechts „Bericht vom Fliegen“ eindrücklich zeigt –, die Vision des „neuen Menschen“ und die Kraft einer Volksgemeinschaft keineswegs nur von rechts beschworen wurden, anschlussfähig für die Nationalsozialisten. Hitlers Wahlkampftouren im modernen Flugzeug waren in ihrer ideologischen Aufladung Teil der politischen Inszenierung des Fliegens, der damit evozierten Modernität der neuen Herrscher und Sinnbild der Potenz des neuen Staates. Berühmte Weltkriegsflieger wie Ernst Udet, des Teufels General, interpretierten den Krieg als Ausleseprozess zur Veredelung der Gemeinschaft, in dem die Starken obsiegten und aus dem sie gestählt hervorgingen. „Ein neuer Lebenswille, der weiß, dass das Dasein des einzelnen nichts, das Leben und die Zukunft der Gemeinschaft alles bedeutet.“[34] Und als im Sommer 1932 die entscheidenden Wahlen anstanden, wurden auf der Wasserkuppe extra für die dort versammelten Flieger und Flugbegeisterten Wahlurnen aufgestellt. Weit mehr als fünfzig Prozent der Stimmen wurden für die NSDAP abgegeben, beträchtlich mehr als der landesweite Durchschnitt von 37 Prozent.[35]

Männer wie Udet oder Hermann Göring gehörten zu denjenigen, von denen man als den „Visionären und Pionieren“ der Luftfahrt gesprochen hat und die Siegfried als Teil der „Neuen Sachlichkeit“[36] definiert: Diese Anfang des Jahrhunderts geborene Generation sei mit dem „Nimbus des Kalten“ umgeben gewesen, und stellte später einen beachtlichen Teil der NS-Führungselite.[37] Sie revidierte Schritt für Schritt die Bestimmungen von Versailles. 1935 führte das neue Regime die Wehrpflicht wieder ein und enttarnte die bis dato verdeckt aufgebaute Luftwaffe. Ihre Aufrüstung ist von dem Historiker Lutz Budrass als das größte industrielle Projekt des „Dritten Reiches“ bezeichnet worden[38], das freilich über die Niederlage hinaus wirkte: Demnächst jährt sich ein weiteres bahnbrechendes Ereignis, an dem Männer aus diesem Komplex maßgeblich beteiligt waren. Unter ihnen Hubertus Strughold, selbst Flieger und Pionier der Flugmedizin, die ihre Erkenntnisse zu großen Teilen aus Menschenversuchen gewann, auch in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. 27 Jahre später, am 17. Juli 1969, betraten erstmals Menschen den Mond – und Strughold kennt man heute als den „Vater der Raumfahrtmedizin“[39].

[1] Zur Funktion von Mythen zur Bildung einer nationalen Identität, insbesondere in Deutschland vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek 2015, insbesondere S. 9–31.

[2] Fritzsche, Peter: „Airmindedness“ – der Luftfahrtkult der Deutschen zwischen der Weimarer Republik und dem Dritten Reich, in: Trischler, Helmuth/Schrogl, Kai-Uwe/Kuhn, Andrea: Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907–2007, Frankfurt 2007, S. 88–104.

[3] Vgl. beispielsweise Anz, Thomas: Der „Neue Mensch“ – eine Obsession des 20. Jahrhunderts. Zwei Ausstellungskataloge aus dem alten Jahr, URL: https://literaturkritik.de/id/752 [eingesehen am 03.07.2019].

[4] MA Freiburg, RH 12-23/4490, Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Heeressanitätswesens Heft 93–100, 1934, Heft 95: Ansprachen bei der Eröffnungsfeier und am Stiftungstage der Militärärztlichen Akademie. Einige Auszüge des vorliegenden Blogtextes sind bereits publiziert in Trittel, Katharina: Hermann Rein und die Flugmedizin. Erkenntnisstreben und Entgrenzung, Paderborn 2018.

[5] Vgl. hier und im Folgenden: DDM, DAL Schr. 35/41 Heft 35, 1. Wissenschaftssitzung der ordentlichen Mitglieder am 1. März 1941, Baeumker: Zur Eröffnung des 5. Arbeitsjahres der Deutschen Akademie der Luftfahrtforschung.

[6] Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands, München 2014, S. 30.

[7] Zitiert nach Radkau, Joachim: Die wilhelminische Ära als nervöses Zeitalter, oder: Die Nerven als Netz zwischen Tempo- und Körpergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 211–241, hier S. 230.

[8] Kehrt, Christian: Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Militärpiloten 1910–1945, Paderborn 2010, S. 49.

[9] Trischler, Helmuth: Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland, 1900–1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt 1992, S. 43.

[10] Kehrt, S. 104.

[11] Herbert: Geschichte Deutschlands, S. 187.

[12] Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte [1700–1990], Band 4: 1914–1949, München 2008, S. 385.

[13] Vgl. Schulze, Hagen: Freikorps und Republik 1918–1920, Kiel 1967, S. 54.

[14] Vgl. grundlegend: Fritzsche, Peter: Wie aus Deutschen Nazis wurden, Zürich 1999, aber auch Verhey, Jeffrey: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000.

[15] Fritzsche: Wie aus Deutschen Nazis wurden, S. 15.

[16] Tagebucheintrag von Rudolf Berthold vom 1.8.1914, zitiert nach Gengler, Ludwig: Kampfflieger Rudolf Berthold, Berlin 1934, S. 37.

[17] Verhey, S. 15.

[18] Trischler: Luft- und Raumfahrtforschung, S. 135.

[19] Trischler: Luft- und Raumfahrtforschung, S. 137.

[20] Vgl. Verhey, S. 346, zur Volksgemeinschaft: „In den zwanziger und dreißiger Jahren war der Begriff ‚Volksgemeinschaft‘ außerordentlich beliebt. Er wurde vom gesamten politischen Spektrum vereinnahmt, von Anarchisten, Katholiken, Juden, Protestanten, Sozialdemokraten, Liberalen, Konservativen und von den Nationalsozialisten“. Zum Begriff der Volksgemeinschaft und seinem Wandel, vgl. auch Wildt, Michael: Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017.

[21] Siegfried, Detlef: Der Fliegerblick. Intellektuelle, Radikalismus und Flugzeugproduktion bei Junkers 1914 bis 1934, Bonn 2001, S. 208.

[22] Vgl. etwa Trischler, Helmuth et al (Hrsg.): Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907–2007, Frankfurt 2007, S. 15.

[23] Vgl. ausführlich dazu Fritzsche, Peter: A nation of fliers, Cambridge 1992.

[24] Trischler: Ein Jahrhundert im Flug, S. 15.

[25] Fritzsche: Airmindedness, S. 89.

[26] Fritzsche: Airmindedness, S. 102.

[27] Siegfried: Fliegerblick, S. 11.

[28] Siegfried: Fliegerblick, S. 90.

[29] Vgl. dazu auch Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biografie, München 2007. Kiesel greift die Auseinandersetzung Jüngers mit dem „Übermenschen“ mehrfach auf (vgl. etwa S. 145).

[30] Zitiert nach Fritzsche: Airmindedness, S. 96. Jüngers Überlegungen zu einer „neuen Rasse“ finden sich auch in Jünger, Ernst: Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922 und Jünger, Ernst: Das Wäldchen 125, Berlin 1925.

[31] Siegfried: Fliegerblick, S. 92.

[32] Vgl. Siegfried: Fliegerblick, S. 97.

[33] Roth, Karl Heinz: Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente im Konzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die luftfahrtmedizinische Forschung des „Dritten Reiches“, in: Ebbinghaus, Angelika/Dörner, Klaus (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001, S. 110–152, hier S. 137.

[34] Udet, Ernst: Mein Fliegerleben, Kindle-Position 1910.

[35] Fritzsche: Airmindedness, S. 93.

[36] Zur „kalten persona“ und zum Motiv der Sachlichkeit, vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, 8. Auflage, Frankfurt am Main 2018.

[37] Siegfried: Fliegerblick S. 16.

[38] Budrass, Lutz: Zwischen Unternehmen und Luftwaffe. Die Luftfahrtforschung im Dritten Reich, in: Maier, Helmut (Hrsg.): Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaft, Göttingen 2002, S. 160.

[39] O. A.: Im Schatten der Mondlandung, URL: https://www.br.de/br-fernsehen/programmkalender/sendung-2405976.html [eingesehen am 03.07.2019].