SPD – wohin?

[analysiert]: Franz Walter über Zustand und Zukunft der SPD.

Prof. Walter wurde in den letzten Monaten oft zu SPD-Parteiversammlungen eingeladen, um seine Sicht des Zustandes und der Perspektiven sozialdemokratischer Politik zu skizzieren. Für unseren Blog hat er die ihm zentralen sechs Thesen exklusiv zusammengefasst.

  1. Parteien können ihre Entstehung weit überdauern und in langer Perspektive wirken, wenn sie so etwas wie einen geschichtlichen Auftrag mit sich führen, wenn sie als Vertreterinnen grundlegender Interessen agieren und als Organisatoren von sozialen Bewegungen Kraftzentren in der Gesellschaft bilden. Parteien ändern sich durch dieses Tun, weil vieles davon Erfolge zeitigt. Auch die SPD ist auf diese Weise nicht mehr die Formation der Entrechteten und Ausgegrenzten geblieben. Sie ist nicht mehr Partei der Industriearbeiter in der Industriegesellschaft. Aber besitzt sie dann noch einen historischen Antrieb, ein soziales Subjekt, die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Organisation und Aktion? Und was sollte das sein? Das ist illusionslos zu klären.
  2. Parteien der demokratischen Linken blühen nur so lange, wie sie Ankerplätze und politische Transportmittel von Hoffnungen sind. Entledigen sich diese Parteien jedes Ethos, diskreditieren ihre Eliten ihn durch ihre Handlungsweise, dann werden Parteien verwelken. Auch und gerade die SPD hat ihren Ethos nicht nur an den Feiertagen zu beschwören; er muss sich in ihrer Politik, in den Worten und Verhaltensweisen ihrer Mandateure verlässlich spiegeln.
  3. Parteien sind kollektive Akteure. Doch die Erfahrung gelungener Kollektivität dünnt sich mehr und mehr aus – nicht zuletzt deshalb, weil Parteien ihre Mitglieder- und Anhängerschaft nicht mehr in die Aktion schicken, sie politisch lediglich als individuelle Zugehörige kleinteiliger Zielgruppen auf dem Wählermarkt ansprechen. Der Ausstieg aus dem beengenden Gefüge disziplinierender Kollektivität mochte eine Zeit lang nicht ohne Recht als Befreiung des Individuums gedeutet werden können. Jetzt aber geht die Minimierung von Assoziation und gemeinschaftlicher Aktion ganz zu Lasten des Handlungs- und Durchsetzungsvermögens, auch des Selbstbewusstseins der arbeitnehmerischen Bevölkerung. Und die einst feste Beziehung zwischen der Sozialdemokratischen Partei und ihren ursprünglichen Sympathisanten ist als Folge davon ebenfalls porös geworden. Die Zukunftsfähigkeit des sozialdemokratischen Reformismus wird davon abhängen, ob er zur kollektiven Mobilisierung noch fähig ist.
  4. Aber auch dann darf dies alles nicht nach taktischen Mätzchen einer unruhig rochierenden Parteiführung aussehen. Die erratischen Winkelzüge der wechselnden sozialdemokratischen Parteispitzen haben zuletzt viel an Vertrauen zerstört, das nur sehr mühselig (wenn überhaupt) wieder herzustellen ist. Es muss künftig nicht gleich die „große Erzählung“ sein, die den roten Faden und genuinen Kern des sozialdemokratischen Versprechens bildet. Aber ein ordnendes Prinzip, eine strukturierende Idee wären wichtig, um die Sozialdemokratie zu binden, alle Teile zu integrieren, um erkennbare Linien ziehen zu können.
  5. Doch darf man dabei nicht zu introvertiert bleiben. Das Bündnis ist seit jeher die eigentliche Kunst des Politischen. Doch tut sich die Sozialdemokratie, durch lange Isolationserfahrungen in ihrer Konstituierungsgeschichte, schwer mit Allianzen. Seit dem 19. Jahrhundert sieht sie sich als Mutter aller Parteien und alleinige legitime Vertreterin der Linken. Das macht sie oft starr, wo Koalitionen hingegen prinzipiengesteuerte Elastizität und Lernprozesse verlangen.
  6. Aber prinzipienbewusst sollte die Beweglichkeit natürlich schon sein. Denn nichts diskreditiert Parteien so sehr wie die zynische Indifferenz ihrer Anführer gegenüber den Basishoffnungen und Kernanliegen des verbliebenen Wählerstamms. Parteien dürfen ihre Anhänger nicht im Stich lassen. Das scheint trivial, wurde aber in den letzten Jahren vielfach ignoriert.

Franz Walter leitet das Göttinger Institut für Demokratieforschung. Vor wenigen Monaten erschien sein Buch „Vorwärts oder Abwärts. Zur Transformation der Sozialdemokratie„.