[Gastbeitrag]: Daniel Hirsch über die Verhandlungen am Runden Tisch 1989 in Ungarn
Freiheitskämpfe haben in Ungarn eine lange Tradition. 1703–1711 sowie 1848/49 lehnte man sich gegen die Habsburger auf, 1956 gegen die als Besatzer empfundenen Sowjets. Alle drei Aufstände hatten gemeinsam, dass sie sich sowohl gegen fremde Mächte als auch gegen deren ungarische Verbündete richteten: Jedes Mal fochten ungarische Widerständler auch gegen ungarische Eliten. Somit schien der jahrhundertelange Kampf um nationale Selbstbestimmung keineswegs von nationalem Zusammenhalt geprägt – das ungarische „1989“ bildet diesbezüglich eine echte Ausnahme.
Am sogenannten „Runden Tisch“ trafen am 13. Juni 1989 die wichtigsten Politiker des Landes zusammen, um drei Monate lang über den friedlichen Regime- und Systemwechsel zu beraten – einer der wenigen Fälle von Partei- und Gesellschaftsschichten übergreifendem Zusammenhalt in Ungarns Geschichte. Seitdem spricht man von einer „Verhandlungsrevolution“ oder einer „paktierten Revolution“, infolge derer der Übergang zum demokratischen Rechtsstaat durch Übereinkünfte gelang.
Nachdem Michail Gorbatschow 1986 die Perestroika ausgerufen hatte, bildete sich in einem ungarischen Dorf ein Jahr später die erste Partei seit dem Aufstand von 1956, das nationalkonservative „Ungarische Demokratische Forum“ (Magyar Demokrata Forum, MDF). Bis Mitte der 1990er Jahre war sie die wichtigste politische Kraft. Bei einer ersten zivilen Demonstration am Nationalfeiertag des 15. März 1988 wurden freie Wahlen gefordert und liberale sowie antikommunistische Parteien wie etwa das Netzwerk Freier Initiativen (Szabad Kezdeményezések Hálózatát, SZKH) – der Vorgänger des Bundes Freier Demokraten, (Szabad Demokraták Szovetsége, SZDSZ) – und der Bund Junger Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, Fidesz) gegründet.[1] Auf dem Parteitag der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (Magyar Szocialista Munkáspárt, MSZMP) wurde der Staatsführer János Kádár nach 32 Jahren Regierungszeit entmachtet.
Als Beispiel diente das mit Ungarn traditionell befreundete Polen: Nach mehreren Streikwellen, organisiert durch die Arbeiterbewegung Solidarność, war die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei bereit, die Macht mit demokratischen Vertretern zu teilen. Am 6. Februar 1989 begannen die dortigen Verhandlungen am Runden Tisch im Präsidentenpalais Warschau. Doch trotz der gleichlautenden Bezeichnung unterschieden sich die Verhandlungen in Ungarn in ihren Voraussetzungen markant von jenen in Polen. Eine starke katholische Kirche sowie eine selbstbewusst aufbegehrende Arbeiterschaft waren in Ungarn nichtvorhanden. Auch die Erfahrung des Kriegszustands während der Periode des Kriegsrechts in Polen 1981–1983bedeutete andere Ausgangsbedingungen für die polnische demokratische Opposition, die weniger radikal auftrat als etwa die antikommunistische und religionskritische ungarische Jugendpartei Fidesz.
In Ungarn nährte ein anderes nationales Traumata den zivilen Ungehorsam: der blutig niedergeschlagene Aufstand von 1956. Seitdem gärte es in der Bevölkerung. Bei den oppositionellen Gruppen wurde zum Ende der 1980er Jahre die Forderung nach Rehabilitierung der Aufständischen immer lauter. Als der Reformkommunist und damalige Staatsminister Imre Pozsgay im Januar 1989 im Staatsfunk die Ereignisse des Jahres 1956 als „Aufstand“ und nicht mehr „Gegenrevolution“ bezeichnete, wurde dies als klarer Bruch mit der bisherigen Parteilinie gefeiert.
Am 22. März bildete sich zunächst der Oppositionelle Runde Tisch (Ellenzéki Kerekasztal, EKA), der als Forum zur Herausarbeitung gemeinsamer Positionen dienen sollte. Hier fanden bislang organisatorisch verstreute Arbeiter, Akademiker, Patrioten, Landwirte, Demokraten, Liberale und Künstler zusammen. Im April 1989 beendete der Oppositionelle Runde Tisch seine öffentlichen Vorgespräche und entschied, Verhandlungen mit der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) aufzunehmen.
Zu den Teilnehmern des „Nationalen Runden Tisches“ von Juni bis September 1989 zählten sämtliche Parteien inklusive eines großen Gewerkschaftsbundes und anderer kommunistischer Organisationen. Zudem wurde geregelt, dass neben der MSZMP, den ihr nahestehenden Vereinigungen und der demokratischen Opposition auch Vertreter der Öffentlichkeit als vierter, gleichberechtigter Verhandlungspartner am Tisch sitzen sollten. Unter den Verhandlungsführern befanden sich neben dem Reformkommunisten Imre Pozsgay auch der junge, damals noch Liberale Viktor Orbán und der spätere erste Ministerpräsident József Antall.
Ziel der Verhandlungen war von oppositioneller Seite der friedliche Übergang von der „diktatorischen Gewaltherrschaft“ zur „demokratischen Volksvertretung“, wie es Imre Kónya, Vorsitzender des Unabhängigen Juristen-Forums, bei der Plenarsitzung des Runden Tisches kundtat.[2] Der konservative Flügel der MSZMP sprach von einem „Modellwechsel“, einem „sozialistischen Pluralismus“, die Reformer der Partei von einem „Parlamentarismus nach bundesdeutschem Vorbild“. Am Runden Tisch einigte man sich darauf, keine Gewaltenteilung über das Volk hinweg zu beschließen, sondern dieses per Wahl seine Vertreter selbst bestimmen lassen. Dabei durften natürlich Hinweise auf Ungarns Tradition nicht fehlen: So erinnerte Kónya in einer Rede an die historischen Freiheitskämpfe und das Streben der Ungarn nach Selbstherrschaft sowie Unabhängigkeit. Zudem betonte er, dass „die Demokratie die einzige mögliche Perspektive ist, nachdem Diktaturen und Ein-Parteien-Staatsführungen versagt haben“.
Die anschließenden Verhandlungen waren zunächst von politischem Taktieren geprägt: Die MSZMP versuchte, so viel Macht wie möglich zu bewahren;[3] den Parteien des „Oppositionellen Runden Tisches“ gelang es aber trotz ihrer geringen Größe, mangelnder finanzieller Ausstattung und einiger Unstimmigkeiten untereinander, die Regierungspartei zu Zugeständnissen zu zwingen, auch weil sie breite Teile des Volkes hinter sich wussten. Es wurden Ausschüsse zu Sachthemen gebildet, die frei über sämtliche konstitutionellen Fragen debattieren sollten. Einen ersten wichtigen Erfolg errungen die Oppositionsparteien bereits Ende Juni, als Imre Pozsgay zusicherte, dass das Parlament den Verhandlungen nicht zuvorkommen würde.
Zeitweise bremsten inhaltliche und politische Differenzen die Verhandlungen aus. Die MSZMP monierte etwa ein vom SZDSZ vorgeschlagenes und Monate später auch durchgeführtes Referendum, das das Volk u. a. über den Zeitpunkt der Wahl des Staatspräsidenten entscheiden lassen wollte. Erst als im August Imre Pozsgay Vorsitzender der MSZMP-Delegation wurde, nahmen die Gespräche wieder Schwung auf, da er besonders ausgleichend auf die Gespräche einwirkte und eine Brückenfunktion ins Lager der demokratischen Opposition erfüllte. Im September einigte man sich schließlich über elementare Aspekte wie das Wahlrecht, Verfassungsfragen und das Aufstellen des Verfassungsgerichtes.
Aufgrund des gemeinsamen Zieles der MSZMP und Opposition, nämlich einen von der Sowjetunion unabhängigen, demokratischen ungarischen Staat zu errichten, verlief der Übergang zum Verfassungsstaat relativ reibungslos, so dass noch heute von einer „stillen Revolution“ gesprochen wird. Nach der Öffnung der ungarischen Westgrenze für DDR-Flüchtlinge wurden die Verhandlungen bereits im September 1989 beendet. Eine gemeinsame Abschlusserklärung sollte verabschiedet werden, doch SZDSZ und Fidesz verweigerten im letzten Moment und für die Öffentlichkeit unerwartet die Unterschrift. Sie befürchteten einen Machterhalt der Kommunisten, wenn das alte Parlament den Staatspräsidenten wählen würde. Stattdessen forcierten der SZDSZ und Fidesz die Durchführung des erwähnten Referendums und konnten sich tatsächlich durchsetzten. Mit Unterstützung aller oppositionellen Parteien fand das Referendum schließlich am 26. November statt. In der sogenannten „Vier Mal Ja-Volksabstimmung“ stimmte die Bevölkerung über folgende Fragen ab: Soll der Staatspräsident erst nach den Parlamentswahlen gewählt werden? Sollen die Parteiorganisationen sämtliche Betriebe verlassen? Soll das Vermögen der MSZMP offengelegt werden? Sollen die bewaffneten Arbeitswachen[4] aufgelöst werden? Die erste Frage wurde denkbar knapp mit 50,1 Prozent Ja-Stimmen entschieden, die anderen drei deutlich mit 95 Prozent.
Die ersten freien Wahlen Ungarns folgten am 25. März 1990, Ende April stellte der Oppositionelle Runde Tisch offiziell seinen Betrieb ein, denn er hatte seine Ziele erreicht. Ausnahmsweise hatten alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien und anderen Gruppierungen für ein gemeinsames, höheres Ziel zusammengearbeitet. Ein Vorgehen, das auch dem heutigen Ungarn nur gut täte. Denn seither ist die ungarische Gesellschaft tief gespalten, wobei sich zwei Lager besonders diametral entgegenstehen und sich gegenseitig mit allen Mitteln bekämpfen: Konservative und Christdemokraten um Viktor Orbáns Fidesz einerseits, Liberale, Grüne sowie Sozialisten andererseits. Die Gräben scheinen fast unüberbrückbar. Der Fall des ungarischen Systemwechsels 1989 könnte als Beispiel dafür dienen, wie über eine besonnene Kompromissfindung gesellschaftlicher Konsens erreicht werden kann.
Daniel Hirsch (geb. 1983 in Frankfurt am Main) entstammt einer ungarischen Familie und ist zweisprachig aufgewachsen. Er studierte Germanistik und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt er in Budapest und arbeitet dort als freier Journalist.
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[1] Kerekasztaltól a demokratikus alkotmányig, in: Mult-kór, történelmi portál (Historisches Portal), 15. Juni 2009, URL: http://mult-kor.hu/cikk.php?id=24985 [eingesehen am 20.05.2014]
[2] Az Ellenzéki Kerekasztal szándéknyilatkozata (1989), auf: YouTube, hochgeladen am 20.02.2010, URL: http://www.youtube.com/watch?v=azXCL6XM68w [eingesehen am 28.05.2014]
[3] Gavra, Gábor und Miklósi, Gábor: A Nemzeti Kerekasztal-megállapodás 15. évfordulója: Született szeptember 18-án, in: Magyar Narancs Online, 23.09.2004, URL: http://magyarnarancs.hu/belpol/a_nemzeti_kerekasztal-megallapodas_15_evforduloja_szuletett_szeptember_18-an-53850 [eingesehen am 25.05.2014]
[4] Aufsichtskräfte, die in Betrieben die Maschinen bewachten.