[präsentiert]: Oliver D’Antonio berichtet aus dem Frankfurter Stadtteil Nordend
Für die Vordenker einer schwarz-grünen Bündnispolitik als neuem Erfolgsmodell waren die vergangenen Monate schwer: Noch 2008 galt die Hamburger Koalition zwischen CDU und GAL als Prototyp einer neuen Bündnispolitik auf Landesebene. Seit vergangenem Herbst jedoch herrscht wieder Eiszeit zwischen beiden Seiten. Ein Bürgerentscheid in Hamburg, ein Bahnhof in Stuttgart und eine Atomkraftwerk in Japan rissen Gräben auf, die noch vor Jahresfrist überwunden schienen. Konservative und die Ökopartei passen doch nicht zusammen, so lautet das Resümee der vergangenen Wochen landauf, landab. Die bevorstehenden Regierungswechsel im Südwesten scheinen die Renaissance des überwunden geglaubten rot-grünen Projekts nachhaltig zu unterstreichen.
Jenseits der Orte des lautstarken Medienwahlkampfs zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Besuchen wir die Berger Straße, jene begrünte Einkaufs- und Flaniermeile, die sich vom nördlichen Zentrum Frankfurts am Main über drei Kilometer durch die Stadtteile Nordend und Bornheim zieht. Das Nordend hat etwas Exklusives, schon der Name verbürgt in den Augen der Frankfurter Lebensqualität, gerade für junge Familien. Die zahlreichen Kitas lassen erkennen, dass die Geburtenrate in diesem Stadtteil höher liegt als im Durchschnitt der Republik. 55.000 Menschen leben hier auf nicht einmal fünf Quadratkilometern Fläche. Und weil noch viel mehr hier leben wollen, ist der Wohnraum begehrt und teuer.
„Mitten im grünen Leben“, plakatiert die ansässige Stadtteilgruppe von Bündnis90/Die Grünen auf der Berger Straße. Wie sehr man sich hier mitten im grünen Leben Frankfurts befindet, bekommen vor allem Autofahrer zu spüren. Parkplätze sind rar gesät und die vielen verkehrsberuhigten Zonen machen Tempo-Freunden das Leben schwer. Das soll auch so sein, denn das Nordend versteht sich als ein Labor grüner Lebens- und Stadtphilosophie. Was anderswo in einer Großstadt indiskutabel wäre, wird hier gedacht und verhandelt. Ideen, wie die eines nahezu autofreien Stadtteils, der Beschäftigten mittels eines umfänglichen Leihfahrradsystems den Weg von den umliegenden S- und U-Bahnhöfen zur Arbeitsstelle ermöglicht, finden im Nordend Raum. Weil die Grünen und ihre Anhänger vor Ort um ihre privilegierte Stellung wissen, erklären sie sich auch bereit, die Versuchskaninchen für fortschrittliche Projekte zu sein. Man diskutiert, einen zentralen Platz – zumindest testweise – für PKW zu sperren oder Hauptverkehrsstraßen nachts zu Tempo-30-Zonen zu erklären.
Zwar ist man sich gewiss, dass viele Ideen utopische Züge tragen, doch hier nennt man es lieber Visionen. Und die grünen Visionäre aus dem Nordend verfahren streng nach dem tradierten Prinzip, global zu denken und lokal zu handeln. Das Nordend kann man sich durchaus als Prototyp des grünen Stadtviertels vorstellen, von dem aus eine Expansion des Modells möglich sei. Hier, wo Bio-Bäcker ihre Filialen führen und ein offener Bücherschrank – natürlich auf Initiative der Grünen – zur freien Verfügung der Bewohner steht, sieht man auch die Chance, Vorreiter für die bürgerliche Lebensform der Zukunft zu werden. Der 30-jährige, bisweilen steinige Aufstieg ihrer Partei in bis heute ungekannte Höhen bestätigt sie, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Deshalb hat man auch einen langen Atem.
Als Spinner gelten diese Grünen heute längst nicht mehr. Sie sind fest verankerter Teil der Mehrheitsgesellschaft im Nordend. Die Bewohner honorieren ihre Politik, auch weil sie stolz sind auf die Avantgarde-Stellung, die der Stadtteil einzunehmen scheint. Seit mehr als einem Jahrzehnt sind die Grünen die stärkste Fraktion im hiesigen Ortsbeirat, erzielen bei Kommunalwahlen regelmäßig Ergebnisse um die 30 Prozent. Bei den jüngsten Ortsbeiratswahlen im März 2011 wurde der Erfolg aber selbst einigen Grünen unheimlich: Mit 42,5 Prozent erhielten sie im Nordend fast genauso viele Stimmen wie CDU, SPD und FDP zusammen. Mit Blick auf die Stadtebene ist man zufrieden, nach der Kommunalwahl wohl weiterhin mit der CDU koalieren zu können, anstatt wie anderswo über grün-rote Bündnisse nachdenken zu müssen. Denn die anti-grünen Intrigen einiger Sozialdemokraten während der Koalition in den 1990er Jahren sind hier nicht vergessen. Damals ließen SPD-Stadtverordnete mehrfach grüne Kandidaten bei der Wahl zum Dezernenten durchfallen, woran die Regierung 1995 schließlich zerbrach.
Die CDU schätzt man heute hingegen als professionellen Partner. Überhaupt, die Frankfurter Christdemokraten gelten im Land weithin als ein Sonderfall: Denn während die Hardliner von Dregger bis Koch den Landesverband der Partei fest im Griff hatten, gilt die Union der Mainmetropole, unter Führung der populären Oberbürgermeisterin Petra Roth, als ein Ort großstädtischer Offenheit und Liberalität. Zwar gab es auch in der CDU lange Zeit Vorbehalte, gegen ein Bündnis mit den Grünen, ein erster Anlauf im Jahr 2001 scheiterte noch. Doch seit 2006 wird die Stadt tatsächlich schwarz-grün regiert und dies nicht, ohne dass die Mehrzahl Protagonisten beider Seiten von der Zusammenarbeit überzeugt wären.
Die Frankfurter CDU, besonders im Nordend, zeigt sich offen für grüne Themen: In einen mondänen barocken Prachtbau am westlichen Ende des Stadtteils hat sie geladen, in das Holzhausenschlößchen, in dem auch die elitäre Frankfurter Bürgerstiftung ihren Sitz hat. Doch bei der Diskussionsveranstaltung in der Hochphase des Wahlkampfes geht es keineswegs um wirtschaftspolitische Innovationen oder gar um Drogenkriminalität im Bahnhofsviertel. Die Veranstaltung firmiert unter dem Titel „Mehr Bäume für Frankfurt“. Zwei Stunden lang lassen sich die rund 70 Gäste geduldig über positive Effekte von Stadtgrün, dessen Möglichkeiten und Grenzen für das urbane Klima und die Vielfalt an Baumarten aufklären. Die Mehrzahl der Anwesenden zeigt sich offen interessiert bis begeistert. Nur ein CDU-Ortsvorsitzender äußert sich kritisch gegenüber der Baumpflanzwut, glaubt nicht recht an die positive klimatische Wirkung. Doch solche Bedenkenträger dominieren nicht den Diskurs an diesem Abend. Dies tut vielmehr der Enthusiasmus einer Bürgerin, die mehr Grün im Stadtteil fordert und sich in der Konsequenz zum Gründungsmitglied einer Bürgerinitiative erklärt, die beispielsweise das Herbstlaub im Viertel kehren könnte, um der Stadtreinigung Kosten zu sparen. Das Ideal einer selbstorganisierten Bürgergesellschaft gewinnt im Nordend ein Gesicht. Einer, der sich als Mitglied der Grünen outet, appelliert leidenschaftlich an die anwesenden Christdemokraten, sich entlang der Berger Straße für eine fachgerechte und nachhaltige Begrünung einzusetzen. Die Anwesenden quittieren das mit starkem Applaus.
Wenn Schwarze und Grüne sich im Nordend – aber auch anderswo in Frankfurt – begegnen, rümpfen sie nicht die Nase, sie verhalten sich freundschaftlich zueinander, schätzen sich als qualifizierte und pragmatische Kommunalpolitiker. In Frankfurt hat das bürgerliche Lager zueinander gefunden, auch die FDP arbeitet im Parlament der Stadt gern mit den Grünen zusammen. Natürlich gibt es in Sachfragen auf höherer politischer Ebene Differenzen. Schon wenn ein Frankfurter Christdemokrat auf die Landesebene ins nahegelegene Wiesbaden wechselt, kann sich eine Grüne vor Ort über dessen Innenpolitik ärgern. Für Frankfurt spielt dies aber keine Rolle. Weder der Flughafenausbau noch die Zukunft der Reaktoren in Biblis werden in der Stadt entschieden. In der städtischen Integrations-, der Verkehrs- oder der Lebenslagenpolitik marschiert man in vielerlei Hinsicht im Gleichschritt.
Die Grünen in Frankfurt sind angekommen im bürgerlichen Lager, sie haben auch keinerlei Berührungsängste mit dem Attribut „bürgerlich“. Und die CDU ist angekommen in der Großstadt, hat sich ein ansprechendes Profil für ein gut situiertes und an Lebensqualität orientiertes Bürgertum gegeben. In schwarz-grünen Mikrokosmoi wie diesem dürften sich eher Polarisierungen zwischen diesem Lager und der politischen Linken entwickeln, die der bürgerlichen Regierungseintracht die urbane Armut und Wohnungsnot vor die Nase hält. Für Schwarz und Grün gilt: Unter der Ausklammerung der großen globalen Streitthemen könnten in vielen Städten der Republik solche Bündnisse entstehen, weil sich vor allem das Bürgertum lokalpolitisch engagiert. Die derzeitige rot-grüne bzw. grün-rote Welle auf Landesebene sollte nicht glauben lassen, dass schwarz-grüne Bündnispolitik schon an ihr Ende gekommen ist. Sie wächst von unten – und diese Ära hat gerade erst begonnen.
Oliver D’Antonio ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.