Schlichtigkeiten

[kommentiert]: Christoph Hoeft über die Schlichtungsgespräche in Stuttgart

Der Schiedsspruch von Heiner Geißler am Dienstagnachmittag in Stuttgart sorgte für Emotionen, wie sie gegensätzlicher nicht hätten sein können: Erleichterung und klammheimliche Freude auf der Seite der S-21-Befürworter, Enttäuschung und kaum verhohlene Wut auf der Seite der Gegner. Dass Stuttgart 21 bzw. das  nachgebesserte „Stuttgart 21 plus“ kommen soll, scheint nun festzustehen. Doch was bedeutet das für die Zukunft der Proteste? Kann der Schlichterspruch die äußerst vitale Bewegung gegen das Großprojekt von heute auf morgen zum Erliegen bringen?

Tatsächlich ist es mehr als fraglich, ob die sehr vielschichtige Bewegung nach dem Schiedsspruch zusammenhalten wird. Denn ein gewichtiger Punkt des Widerspruchs ist nun weggefallen: Über mangelnde Transparenz und das schlichte Ignorieren von Alternativkonzepten kann sich nach sechswöchiger, im Fernsehen und Internet veröffentlichter Aufarbeitung der Vor- und Nachteile des Projekts niemand mehr beschweren.

Hier liegt die Zweischneidigkeit der Vermittlungsrunden: Einerseits waren sie für die S-21-Gegner ein willkommenes Forum, ihre Argumente einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dass sie dabei mitunter eine kompetentere und bessere Figur gemacht hätten als die Experten der Bahn und die Politiker, ist zumindest unter Sympathisanten der Bewegung unbestritten. Und auch im Urteil Geißlers wurde betont, dass die Ideen und Konzepte der Gegner durchaus eine ernstzunehmende Alternative zum Tiefbahnhof gewesen seien.

Andererseits folgte aus diesen Erkenntnissen nur wenig Konkretes. Trotz der von Geißler als gut anerkannten Ideen der K-21-Befürworter setzte sich am Ende das Kostenargument durch: Ein Ausstieg sei schlicht zu teuer, daher könne das Projekt nicht mehr gestoppt werden, stattdessen wurden gewisse Verbesserungen des S-21-Konzepts gefordert. Was davon aber schließlich wirklich umgesetzt werden muss, steht auf einem anderen Blatt. Bereits einen Tag später wird von der Verkehrsministerin Baden-Württembergs, Tanja Gönner, öffentlich bezweifelt, ob zusätzliche Gleise wirklich Sinn machen würden. Damit steht eine Kernforderung Geißlers nicht einmal 24 Stunden nach Bekanntgabe bereits wieder vor dem Aus. Das Schicksal der restlichen Verbesserungsvorschläge bleibt vor diesem Hintergrund auf jeden Fall unsicher.

Dies allein aber ist für die Protestbewegung in Stuttgart gar nicht das Schlimmste. Wären ihre Einwände einfach ein weiteres Mal übergangen worden, wäre es nichts anderes als Wasser auf ihre Mühlen gewesen: Ein weiteres Moment der Empörung, an dem wieder mal gezeigt worden wäre, mit welcher Ignoranz die Politiker mit berechtigten Sorgen und Kritikpunkten der Bevölkerung umgehen. Das ist aber nicht passiert. Stattdessen wurden die Gegner und Befürworter an einen Tisch geholt, an dem – und das wurde auch von den S-21-Kritikern immer wieder betont – auf Augenhöhe diskutiert werden konnte. Und das nicht in irgendeinem schummrigen Hinterzimmer, sondern vor den Augen einer interessierten Öffentlichkeit, die sich so selber ein Bild machen konnte.

Indem Heiner Geißler zudem das oft beklagte Demokratiedefizit bei den Entscheidungen zu Stuttgart 21 in den Mittelpunkt seines Urteils stellte, nimmt er der Protestbewegung weiteren Wind aus den Segeln. Die Vielfältigkeit der Demonstranten und ihrer Motive, lange Zeit eine Grundbedingung für die erfolgreiche Mobilisierung in Stuttgart, könnte jetzt ins Negative umschlagen. Eine Spaltung des Protests scheint nun schwer abzuwenden. Und das, ohne wirklich greifbare Ergebnisse in der Hand zu haben. So haben die Bahn und die baden-württembergische CDU zunächst vor allem Zeit gewonnen und sich vorerst aus der scheinbar aussichtslosen Lage mit dem Rücken zur Wand befreit.

Es liegt an den Organisatoren der Proteste, den Kampf gegen S 21 neu auszurichten: entweder durch Aufgabe der während der Schlichtungsgespräche eingeübten relativen Zurückhaltung und den Versuch, zumindest einen relevanten Teil der Protestierenden weiter mitzunehmen, oder durch die Anerkennung des Schiedsspruches und die Konzentration auf die Durchsetzung der von Geißler angeregten Verbesserungen.

Die Vermittlungen haben also das Konfliktpotential in Stuttgart deutlich abgeschwächt. So könnte man glauben, dass sich die Schlichtungsgespräche tatsächlich als wirksames Mittel erwiesen hätten, die ausgeschlossenen und lange ignorierten Stimmen der Kritiker schließlich doch noch zu hören. Es ist aber wichtig, dabei eine Sache nicht aus den Augen zu verlieren: Die Schlichtung bekämpft lediglich die Folgen eines Problems, dessen Wurzeln nicht berührt werden. Das grundlegende Versagen der Politik, Entscheidungen besser zu legitimieren, nach außen zu vermitteln und Meinungen der Gesellschaft aufzunehmen, kann auch durch einen nachträglich eingerichteten Runden Tisch nur mangelhaft übertüncht werden. Sich dessen bewusst zu werden, ist nun die Aufgabe der Parteien. Eben noch hat Heiner Geißler einen Volksentscheid zur Problemlösung abgelehnt. Dennoch wird man um eine intensivere Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen, egal in welcher Form, in Zukunft wohl nur schwer herumkommen.

Christoph Hoeft ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung und Mitautor der Studie „Neue Dimensionen des Protests“ über Stuttgart 21.