[präsentiert]: Katharina Rahlf liest „Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung“ und „Das weiße Buch“.
„Eine teilnehmende Beobachtung“ – wenn sich ein Buch mit diesem Untertitel in den Buchhandlungen zwischen aktuellen Romanen, Bestsellern oder „zeitgenössischer Belletristik“ wiederfindet und nicht im dritten Stockwerk im hintersten Regal unter „Wissenschaft“ neben anderen Werken zu „sozialwissenschaftlichen Methoden“ verstaubt, es dazu noch, obwohl schlicht weiß, nicht nach dröger Fachliteratur aussieht, sondern durch ansprechende Gestaltung besticht, ist das schon bemerkenswert.
Moritz von Uslar hat ein solches Buch geschrieben, das gewissermaßen die Grenzen zwischen Fach-, Sach- und Unterhaltungsliteratur überschreitet. Er, der Journalist, Theaterautor und zeitweilig als „Popliterat“ Stilisierte, hat seinen Wohn- und Arbeitsort Berlin verlassen, um drei Monate in einer Kleinstadt in der Provinz Brandenburgs zu verbringen – um dort „teilnehmend zu beobachten“. Und zwar alles. Das Leben, die Leute. Er will möglichst viel vom dortigen Alltag erleben, um – so ein wesentliches Motiv – urbane Klischees vom „öden Kleinstadtleben“, aber auch vom „rechtsradikalen Provinzler“ zu überprüfen.
Dass dann vieles anders als erwartet kommt, sich das Städtchen „Oberhavel“ oftmals eher als beschaulicher Ort denn bemitleidenswertes „Kaff“ entpuppt und keineswegs nur deprimierende Tristesse über allem liegt, liest sich unterhaltsam, ist aber eigentlich keine große Überraschung. Auch dass nicht ständig randalierende Neonazis durch die Straßen ziehen, die Musikszene überwiegend von langhaarigen Rockern und friedlich-unpolitischen (Ex-)Punks bestimmt wird, ist zwar beruhigend, aber wenig sensationsträchtig.
Interessanter wird es an den Stellen, an denen tatsächlich Erstaunliches zu Tage tritt. Die Gespräche in der Dorfkneipe beispielsweise, ein Ort, von dem man ganz automatisch platte Stammtischparolen erwartet, wo sich aber plötzlich höchst eloquente Rhetoriktalente offenbaren oder die Gespräche mit Kleinstadtbewohnern, die immer sehr subtilen Humor durchblicken lassen, sind solche Momente. Geradezu faszinierend wird es dann, wenn es völlig unbemerkt ins Bizarre hinübergeht: ganztätige Aufenthalte an der Tankstelle, in denen im Grunde nichts passiert und trotzdem ständig etwas los ist und die scheinbar einem ungeschriebenen, aber sehr minutiösen Drehbuch gehorchen. Oder die Fahrt zum Proberaum ins nächstgelegene Dorf mit dem kollektiven „Deutschboden“-Gruß, der Pate für den Titel stand.
Auch in den Sozialwissenschaften, vor allem der Ethnologie, betrieb bzw. betreibt man „Teilnehmende Beobachtung“ – eben aus der Überzeugung heraus, Handeln von Menschen nur aus dem unmittelbaren „Dabei-Sein“ verstehen zu können. Natürlich müssen dieses Konzept bzw. seine Abwandlungen die wissenschafts-typischen Bedenken aushalten: Erstens beeinflusse die Anwesenheit eines Forschers quasi „naturgemäß“ das Beobachtete, zweitens sei der Forscher selbst eine handelnde Person, die das Beobachtete niemals objektiv, sondern stets nur durch eine „subjektive Brille“ betrachten und wiedergeben könne, drittens handele es sich hierbei um ein „diffuses“ Vorgehen ohne klare methodische Regeln usw.
Zweifellos unternimmt von Uslar eine sehr freie „teilnehmende Beobachtung“, beansprucht auch gar nicht, „methodisch korrekt“ vorzugehen. Und mitunter hätte etwas mehr „Disziplin“ vielleicht auch ganz gut getan. Zum Beispiel ist die die ständige Betonung der ach so langen Dauer des dreimonatigen Aufenthalts in Anbetracht zahlreicher Berlin-Unterbrechungen doch etwas übertrieben. Auch hätte man sich etwas weniger Hinweise auf das „Reporter-Sein“ gewünscht, wirkt das dauernde Hadern mit der eigenen Anwesenheit doch reichlich affektiert – warum er seinen vielerwähnten Hut nicht einfach mal abgelegt hat, bleibt ein Rätsel – zumal die Kleinstadtbewohner selbst mit „dem Störenfried“ erholsam gelassen umgehen.
Andererseits ist von Uslar eben Schriftsteller und kein Wissenschaftler. Die (Sozial-)Wissenschaft jedenfalls mag vielleicht strengeren methodischen Anforderungen genügen, ist dafür allerdings (meist) weit weniger interessant, erreicht weit weniger Leser, bleibt somit im Grunde auch weit weniger relevant. Und ob sie, wie angestrebt, tatsächlich exakter „die Realität“ abzubilden vermag, kann man ebenfalls bezweifeln.
Allein aus diesen Gründen ist das Buch lesenswert, zudem amüsant, auch wortgewandt. Doch gleichzeitig stört etwas. Aus der ganzen Heran- und Vorgehensweise, aus der ganzen Art der Berichterstattung sprechen eine enorme Berlin-Fixiertheit, eine unglaubliche Metropolen-Gefangenschaft und ein höchst eingezwängter Blick. Dies ist kaum ein konkreter Vorwurf, den man dem Autor vorhalten könnte, sondern verweist eher auf einen generellen Missstand vor allem der Kultur- und Journalismuslandschaft Deutschlands. Denn, wie gesagt, in brandenburgischen Kleinstädten vor allem „braunen Mief“ zu erwarten, zeugt schon von einer gewissen Voreingenommenheit; noch irritierender ist aber eigentlich die offensichtliche Erleichterung darüber, dass sich schließlich doch nicht alle Befürchtungen bestätigen. Zu oft wird erfreut betont, wie anders als erwartet alles ist, zu vorsichtig fast der Umgang mit den Kleinstädtern, zu besorgt scheint der Autor, mögliche Nachfragen könnten das angenehme Bild doch noch zerkratzen. Das, was zweifelsohne hehren Absichten entspringt – vorurteilsfrei die Kleinstadt zu erkunden und unvoreingenommen den Bewohnern zu begegnen – wirkt bei genauem Hinsehen erst recht befangen und bemüht; die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtern vergrößert sich paradoxerweise dadurch noch. Ohne zwanghaft eine Idylle zerstören zu wollen, ohne miesepetrig-pessimistisch, vielleicht auch sozialwissenschaftlich-entzaubernd immer auch nach den Schattenseiten suchen zu wollen – interessiert hätte es einen schon, was es denn genau mit beispielsweise den übriggebliebenen Tätowierungen auf sich hat…
So aber bleibt von Uslar immer der „Berliner in der Provinz“, der Großstädter, der überrascht ist, mit der Grenze der Großstadt nicht auch die Grenze der Zivilisation zu überschreiten.
Steigern lässt sich dieser Eindruck, wenn man unmittelbar nach „Deutschboden“ ein anderes, noch schlichter gestaltetes Buch liest, „das weiße Buch“ von Rafael Horzon. Der Autor schildert dort in einer Art „auch-fiktionalen“ Autobiographie seine Karriere als Künstler, der keiner sein will, eine endlose Reihung bizarrster Erfindungen, schrägster Geschäftsideen – und permanenten Scheiterns. Sicherlich ist das amüsant zu lesen, vor allem, weil der Protagonist zwar mit überaus gesundem Selbstbewusstsein gesegnet und überzeugt ist, für Größeres geboren zu sein, sich nach jedem Misserfolg aber hemmungslos den Tränen hingibt. Doch mit der Zeit hat man diese permanente Egozentrik einfach über, findet vieles, auch den Stil nurmehr affektiert – auch und gerade wenn das alles immer wieder auch ironisch sein soll. Zu sehr spricht aus all dem eine gewisse verdrehte künstlerisch-elitäre Überheblichkeit. Man kann nur spekulieren, was herauskäme, würde dieser im Wortsinne „Selbstdarsteller“ drei Monate in der Provinz verbringen. Insofern ist „Deutschboden“ zweifellos das vielversprechendere und erkenntnisreichere, weil vergleichsweise weniger selbst-referenzielle Werk.
Trotzdem: Zwei „weiße Bücher“, die beide, auf sehr unterschiedliche Weise, die Abschottung der großstädtisch-kreativen „Szene“ verdeutlichen – vielleicht wäre auch das einmal eine „teilnehmende Beobachtung“ wert.
Katharina Rahlf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“.
Rezensionen zu:
Moritz von Uslar: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
Horzon, Rafael: Das weiße Buch, Suhrkamp, Berlin 2010.