[präsentiert]: Dr. Rainer Driever hat „Weißkittel und Braunhemd. Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop“ gelesen.
Ein neues Buch aus der Schmiede des Göttinger Instituts für Demokratieforschung beleuchtet das Leben des Göttinger Chirurgen und Hochschullehrers Rudolf Stich. Die Autorinnen Katharina Trittel, Stine Marg und Bonnie Pülm liefern als Ergebnis eines universitätsinternen Kooperationsprojektes eine 270 Seiten starke Auseinandersetzung mit Stich, dessen Name immer wieder im Zusammenhang mit Verstrickungen in nationalsozialistische Weltanschauung und Herrschaftspraxis fiel.
Zwei Fragen liegen dem Buch zugrunde: „Wie hat Rudolf Stich aufgrund seiner persönlichen Überzeugungen und Wertvorstellungen als Hochschullehrer, Arzt und Vertreter der bürgerlichen Lebensweise seine biographischen Prägungen und die Traditionen seines Faches mit der NS-Ideologie verknüpft? Und: Welche Faktoren sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass Stich trotz seiner im Nationalsozialismus eingenommenen Rollen positiv in das Gedächtnis von Universität, Stadt und Berufsstand eingegangen ist?“ (S. 8)
Analytischen Zugang zum Thema verschaffen sich die Autorinnen über zwei Schlüsselbegriffe, die für Stichs Leben bestimmend waren: Führertum und Gemeinschaft. Methodisch leiten lassen sie sich dabei vom Gedanken des „biografischen Kaleidoskops“. Sie erzählen Stichs Leben als Puzzle, das seine Geschichte mit verschiedenen Schwerpunkten darstellt: als Klinikleiter, als SA-Mann, als Chirurg etc. Die Kombination verschiedener „Lebensteile“ wirft dabei ein je unterschiedliches Licht auf seine Person. Ein sinnhaftes Muster ergibt sich dabei aus der o.g. Fragestellung. Die „kaleidoskopische Methode“ soll zudem vorschnelle moralische Urteile verhindern und die heterogene Quellenlage zu Stich bewältigbar machen, die von den Autorinnen noch um einige Interviews ergänzt wurde.
Stich hat kein Depositum hinterlassen, hat sich also nicht selbst um eine richtungsweisende Auslese von Material für das „zukünftige Stich-Bild“ gekümmert. Er konnte sich dabei auf seine Schüler verlassen, die seine Leistung als Lehrer und Wissenschaftler „ungeachtet seines Verhaltens „im Strudel der Zeiten“ hoch hielten (S. 227).
Was war er nun – in seinen eigenen Worten angesichts der Haftentlassung durch die Engländer 1945 und der großen Erleichterung der Göttinger Bürger darüber – : „gefährlicher Nationalsozialist“ oder „allenthalben geliebter Kerl“? (S. 18)
Stichs Ansehen in Göttingen war trotz seines offen betriebenen Wirkens als Nationalsozialist nach dem Krieg ungebrochen. Seine Inhaftierung durch die Briten als Funktionsträger der Universität (Dekan der medizinischen Fakultät) war zwar dem automatic arrest geschuldet, trotzdem passte dies den Göttingern nicht in das Bild vom Retter der Stadt, vom Verhinderer der Verlegung des Oberkommandos des Heeres 1944. So wurde dem 80-Jährigen 1955 die Ehrenbürgerwürde verliehen, am selben Tag wurden seine Leistungen als Mediziner durch das „Große Verdienstkreuz des Bundesverdienstordens mit Halskreuz“ geehrt. Jeder Geburtstag Stichs wurde mit großformatigen Artikeln der Göttinger Presse begangen, 1985 wurde eine Tafel an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Weender Landstraße 14 angebracht (inzwischen abmontiert), dem heutigen Arbeitsplatz der Autorinnen. Außerhalb Göttingens zeugt die jährliche Verleihung des „Rudolf Stich-Preises“ durch die Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie von der ungebrochenen Popularität des Chirurgen.
Das Buch stellt Stich als Oberhaupt einer Chirurgenschule, als Hochschullehrer, als Führer einer Fakultät und als Familienvater vor. Durch seine Sozialisation im deutschen Bürgertum ausgestattet mit Selbstdisziplin und Pflichtbewusstsein sowie einem ausgeprägten Paternalismus, teilte Stich einen wesentlichen Teil von dessen kulturellem Code nicht: den Antisemitismus. Im Umgang mit seinem Schüler Karl Heinrich Bauer, dessen Ehe mit einer „Vierteljüdin“ im Dritten Reich für Schwierigkeiten sorgte (S. 187) oder in der unterschiedslosen Behandlung seiner „arischen“ und „jüdischen“ Patienten lässt sich Judenfeindlichkeit nicht erkennen.
1911 folgte Stich einem Ruf nach Göttingen an den Lehrstuhl für Chirurgie und übernahm den Chefarztposten in der Chirurgischen Abteilung der modernen Universitätsklinik. Er wird nur noch 1926 einen Ruf nach Bonn erhalten (S. 203) und den Rest seines Lebens hier in Göttingen verbringen. In der Stadt gehört Stich bald zum „Establishment“, die Villa Stich, in der z. B. regelmäßig „Fakultätskränzchen“ tagen, wird ein Ort gesellschaftlicher Ereignisse. Über die Arbeit in der Klinik sowie in seiner Privatpraxis in der Goßlerstraße kennt man den Professor. Stich ist ein „Netzwerker“, in der Stadt selbst, über „seine“ Verbindung als Mitglied der einflussreichen schlagenden Verbindung der Bubenreuther – vor allem aber über seine einflussreichen Schüler, die das Andenken an den und die Verbindung mit dem „Meister“, „Papa Stich“, pflegen. Der „Vater der Gefäßnaht“ wirkte vor allem als Lehrer, seine wissenschaftlich produktivste Zeit war seine Tätigkeit als Chirurg im Ersten Weltkrieg. Der Krieg als „großer Lehrmeister für Ärzte“, der „einmaliges Quellenmaterial“ zur Verfügung stellte (S. 153), begründete seine Autorität.
Politik gehörte nicht zu seinen Interessenschwerpunkten, Zeitungen las er nur sporadisch (S. 75). In der Weimarer Republik wird er kurzzeitig Mitglied in der DDP, 1933 im Stahlhelm. Aus diesem heraus tritt der 58-Jährige 1934 der SA bei, wo dem Sturmmann der SA beim Sturm 2/R. 91 nur positive Beurteilungen zu Teil werden. Stich reiht sich ein in die Volksgemeinschaft, man sieht ihn mit der Sammelbüchse durch die Stadt laufen. Hauptsächlich war er in der SA-Reserve jedoch im Sanitätsdienst tätig. An der Göttinger Universität wird er als Dekan ab 1939 eine der wichtigsten Stützen des NS-Regimes. Als Beratender Arzt für die Wehrmacht berät, überwacht und lehrt Stich in dessen Sinne. An politischer Vernunft fehlte es ihm augenscheinlich (S. 163: „Krieg und Krankheit sind Naturerscheinungen“; S. 166: „nach dem Ausbruch des uns aufgezwungenen Krieges“), was für deutsche Professoren nicht untypisch ist (Lebende natürlich ausgenommen). Noch 1945 betont er: „Ich bin wirklich überzeugter Nationalsozialist geworden, trotz meiner Jahre, vielleicht schon immer gewesen, ohne es früher selbst recht gewusst zu haben.“ (S. 86)
Eine öffentliche Auseinandersetzung mit seiner eigenen Rolle ist nicht überliefert. Und – natürlich wird Stich von den Medizinverbrechen seiner Kollegen über Tagungen und die Schriften der Zentrale für wissenschaftliches Berichtswesen gewusst haben. Seine eigenen Forschungen zum Blutersatzmittel Periston, besonders aber zu „Heilgas“, brachten ihn zudem in direkten Kontakt mit den „eingehenden Untersuchungen im Bereich der SS“. (S. 172)
Längere Beschreibungen der Arbeit von Kollegen Stichs, die wegen ihrer Medizinverbrechen verurteilt wurden, sind zwar sehr informativ, man fragt sich jedoch, ob diese über Stichs Nähe zu ihnen einen diffusen Zusammenhang stiften sollen. Dies wäre überflüssig. Stich trug seinen Teil zur NS-Unrechtsmedizin bei, von seinen Kollegen wusste er und entschied sich, (zumindest öffentlich) darüber zu schweigen.
Das Buch gelingt in der Beschreibung der großen Zusammenhänge, die allerdings manchmal etwas langatmig geraten (ein paar weniger Zitate aus dem umfangreichen Material des „Stich-Lobes“ zwischen S. 235 und S. 245 hätten gut getan). Bei den Details hakt es mitunter: Wird zunächst Stichs Ablehnung als Parteianwärter konstatiert (S. 58), liest man auf der nächsten Seite, dass Stich dann mit seinem Eintritt doch lieber bis 1937 gewartet habe. Der aufmerksame Leser denkt unwillkürlich an den Aufnahmestopp ab dem 1. Mai 1933. Belohnt wird das 16 Seiten später, wo von einem Aufnahmeantrag 1933 die Rede ist.
Wünschenswert für den Leser wären Informationen, was es mit den Organisationen auf sich hatte, deren Mitgliedschaft Stichs mehrfach festgehalten wird: NSV, NS (D)-Dozentenbund, (NSD-) Studentenbund, (NSD-) Ärztebund, NS-Kriegsopferversorgung, NS-Reichskriegerbund, NS-Altherrenbund der Studenten und Reichsluftschutzbund.
Gerade wenn es um biografische Darstellung im Nationalsozialismus geht, ist Genauigkeit bis in die Wortwahl notwendig. Stichs Verstrickungen in die Zwangssterilisation werden geschildert. Auf S. 139/140 liest man, dass Stich mindestens eine Operation selbst ausführte, auf S. 263 hingegen „durchtrennte er […] den Samenleiter gelegentlich auch selbst“. – Die Übergriffe gegen die Göttinger Juden eskalierten keineswegs „vorläufig“ in der Pogromnacht von 1938 (S. 82), sondern bereits am 28. März 1933, wobei es zu einer reichsweit einmaligen Verfolgungs- und Demütigungsaktion in der Stadt kam. Die Frage, ob die Euthanasie der „T4-Aktion“ als Katalysator für die Judenvernichtung wirkte, wie auf S. 140 gestellt, ist keine Frage – Methoden, Technik und Personal wirkten richtunggebend. Ferdinand Sauerbruch war nicht „u.a. Mitglied des Reichsforschungsrates“ (S. 207), sondern dessen Leiter der Fachsparte Medizin.
Das nun vorliegende „biografische Kaleidoskop“ bricht nicht den Stab über Stich. Es löst seine Aufgabe ein, zu zeigen, warum und wie die konträren Deutungen über ihn nach 1945 so wirkmächtig werden konnten. Es wartet mit einer Fülle von Informationen auf, die den Leser nach der Lektüre der Entscheidung „gefährlicher Nationalsozialist“ oder „allenthalben geliebter Kerl“ näherbringen.
Rezension zu:
Katharina Trittel, Stine Marg, Bonnie Pülm: Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop, Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2014
Dr. Rainer Driever war zuletzt für die historische Betreuung der Publikation „Göttinger Straßennamen“ verantwortlich, aktuell ist er mit dem Projekt „Widerstand in Göttingen und Südniedersachsen“ für die Stadt Göttingen befasst.