[kommentiert]: Katharina Trittel zur Diskussion von Christopher Clark und Gerd Krumeich über den Ersten Weltkrieg auf dem 50. Deutschen Historikertag.
Es war der Publikumsmagnet des diesjährigen Historikertags. Bereits am ersten Tag verabredete man sich für das „Finale“. „Wir sehen uns bei Clark“ hörte man immer wieder im Göttinger ZHG (dem Veranstaltungsort), in der Mensa oder auf dem Campus. Und dann, am Freitag, ging es endlich los, der Höhepunkt der Tagung, Christopher Clark und Gerd Krumeich in der Debatte über den Ersten Weltkrieg.[1] Angekündigt als Streitgespräch und aufgrund der Scharmützel in den Medien im Vorfeld war die Erwartungshaltung im Publikum entsprechend: endlich Auseinandersetzung, endlich Kontroverse.
Unter der übergeordneten Frage nach der Spezifik des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg in Deutschland, grundsätzlich und vor allem im Jubiläumsjahr, sollten, unaufgeregt und souverän moderiert von Johannes Paulmann, Direktor der Abteilung für Universalgeschichte am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, Ursachen des Krieges und die Dynamik der aktuellen Debatte diskutiert und bestritten werden.
Und dann? In den allermeisten Punkten freundliche Einigkeit, gar Harmonie auf dem Podium.[2] Statt die Klingen zu kreuzen spielten sich die Kontrahenten, die keine waren, galant und eloquent die Argumente zu und boten eine perfekte Show. Und das im positiven Sinne. Wo bei anderen Sektionen häufig ausformulierte Vorträge vom Blatt gelesen wurden, bekam das Auditorium hier einen Einblick in ein Gespräch zweier Historiker, die publikumswirksam reden und argumentieren können. Die Versuche des Moderators, doch noch eine Kontroverse zu erreichen („Jetzt sind wir uns wieder einig. Wechseln wir das Thema.“) liefen ein ums andere Mal ins Leere. Dankbar konnte man im Publikum für den charmanten Humor Krumeichs sein, der, knapp am Kalauer vorbei, oft unterhaltsam war. Und häufig scharfsinnig. So erklärte er nicht nur anhand eines Beispiels, „es ist mein Beispiel und es ist unschlagbar“, die Dialektik der Geschichte: „Von Nichts kommt Nichts“, und war sich der Lacher des Publikums gewiss. Er interpretierte auch den Titel des Clark’schen Werkes so präzise, dass er den Beifall seines Verfassers erntete. „Die Schlafwandler“, in diesem Fall die Akteure, deren Entscheidungen den Ersten Weltkrieg auslösten, gingen nach Krumeich unbeirrbar ihren Weg, eben als seien sie Schlafwandler und sie gingen ihn immer weiter, auch „wenn der Weg direkt aus dem Fenster in den Abgrund führt“.
Gleichwohl wurden auch noch ausstehende, lohnende Forschungsthemen benannt. So forderte Krumeich, man müsse sich ausführlich und systematisch dem „Einkreisungssyndrom“ widmen, unter welchem alle Deutschen „außer Liebknecht und zwei anderen“ in der Vorkriegszeit gelitten hätten und welches massiv dazu beigetragen hätte, dass Deutschland sich in einem Verteidigungskrieg wähnte.
Während über den Ersten Weltkrieg, seine Ursachen und Antriebskräfte nur wenige unterschiedliche Blickwinkel und Meinungen ausgetauscht wurden, da, und das ist das eigentlich interessante, neue Fakten oder Quellen nicht die Ursache für die Standpunkte der Autoren bilden, wurde die interessanteste Frage nicht geklärt. Das „Phänomen Clark“ oder, wie Heinrich August Winkler es nennt: der „Clark-Effekt“.[3]
Wie ist es möglich, dass ein Australier, dessen Buch in revisionistischer Manier so interpretiert worden ist, als relativiere es die Kriegsschuld der Deutschen oder weiche der Schuldfrage zumindest aus (er selber wehrte sich vehement gegen diese Lesart), ein 900-seitiges Hardcover-Fachbuch für stolze 40 Euro in Deutschland unfassbare 250000 Mal binnen eines Jahres verkauft? Das gab es noch nie und alle angebotenen Erklärungen scheinen für sich nicht plausibel und ausreichend zu sein, diesen sensationellen Bestsellererfolg zu erklären. Krumeich, der süffisant behauptete, die rund 800 anwesenden Zuhörer „sind alle wegen mir gekommen“, fügte dann doch schnell hinzu, „aber wenn der Chris da ist, kommen doch noch ein paar mehr.“ Denn Clark habe eine Sehnsucht in den Deutschen geweckt, von der wir bisher nichts gewusst hätten, ja, er habe gar ihre Seelen erlöst und sie davon überzeugt, eine gute Nation zu sein. Sofort konterte Clark, er sei Australier, „ich wusste nicht, was ich tat“. Und schob er, fast um beweisen zu müssen, dass es ihm ernst ist, das Urteil seiner englischen Studenten zitierend hinterher: „Wie kommen Kriege zustande? Deutsche fangen sie an.“ Die Jüngeren im Publikum lachten.
Aber ist es wirklich zu glauben, dass die Kriegsschuldfrage, die als Debatte historisch schon so häufig geführt wurde, doch so tief in der „deutschen Volksseele“, wie Paulmann bemerkt, verwurzelt ist? Dass der Wunsch nach Erlösung, nach einer Erzählung, in der die Deutschen doch nicht ganz die Bösen sind, tatsächlich so groß ist? Was eher als rhetorische Frage in den Raum gestellt worden war, wurde aus dem Publikum prompt von einer Seniorin mit dem deutlichen Zwischenruf „Genau, genau das ist es!“ beantwortet. Mutmaßungen, die intensive Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg, Fragen, wie Hitler möglich sein konnte, hätten lange Zeit den Blick auf den Ersten Weltkrieg verstellt, sind zwar naheliegend, doch ist dieser Blick keineswegs neu. Und auch birgt er die Gefahr, die Frage nach Hitler relativierend zu beantworten: Denn „wenn Deutschland ‚nur‘ am Zweiten Weltkrieg schuld ist, am Ersten aber nicht, ist es kein weiter Schritt mehr zu der Behauptung, dass Hitler eben der große ‚Betriebsunfall‘ der deutschen Geschichte war“[4], wie Heinrich August Winkler kürzlich in Der Zeit zu bedenken gab.
Und auch Clarks Blickwinkel, der betont, man würde aus der Perspektive des Jahres 2014 mit seinen osteuropäischen Krisenherden anders auf 1914 schauen und daher auch neue Fragen stellen, ist eigentlich gar nicht so neu. Die alte Frage, ob man Ereignisse, Strukturen, Akteure oder Mentalitäten in den Fokus seiner Perspektive stellt, akzentuiert zwar die Antwort, doch wurden diese Antworten längst gegeben – schon vor Clark.
Indes, die Frage nach dem „Phänomen Clark“ bleibt auch nach der Veranstaltung unbeantwortet. Erst nachdem man ein bisschen Zeit hatte, die Debatte Revue passieren zu lassen, öffnete sich der Blick auf einen anderen, durchaus relevanten Fluchtpunkt der Diskussion. Clark und Krumeich betonten nämlich einhellig, dass in der Vorkriegszeit eine instabile und intransparente Kommunikationskultur geherrscht habe zwischen den globalen Mächten, ein „Zeitgeist“, in dem ein offenes Gespräch mit Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten des Gegners als Schwäche interpretiert worden sei. Dieser hätte die Möglichkeiten zu einer friedlichen Lösung verstellt. Und für diese Stimmung haben sie ein Wort gefunden, das vieles, vielleicht auch die eigentlich offen gebliebene Frage nach dem Clark-Effekt, erklärt: sie haben sie einen großen Bluff genannt.
Katharina Trittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
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[1] Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013 und Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz, Paderborn 2014.
[2] So urteilte auch die taz, vgl. Songcontest und Vertriebenentreffen. 50. Deutscher Historikertag, in: taz vom 29.09.2014, online einsehbar unter https://www.taz.de/50-Deutscher-Historikertag/!146769/.
[3] Heinrich August Winkler, Und erlöse uns von der Kriegsschuld in: Die Zeit vom 18.08.2014, online einsehbar unter http://www.zeit.de/2014/32/erster-weltkrieg-christopher-clark.
[4] Vgl. Winkler.