[analysiert]: Roland Hiemann über die Zukunft von Nordkorea nach dem Tod von Kim Jong Il
Es war zu erwarten: Die Nachricht über das Ableben von Kim Jong Il und die Verkündung seines Nachfolgers Kim Jong Un, hat in den westlichen Medien erneut Spekulationen über einen bevorstehenden Regimekollaps in Pjöngjang heraufbeschworen. Das hat man in der Vergangenheit schon oft erlebt – Anfang der 1990er Jahre etwa, als die wirtschaftlich bereits gescheiterte Volksrepublik mit der Sowjetunion ihren wichtigsten Patron verlor. Entgegen eigener Ängste vermochte Nordkorea dem Schicksal vieler ex-kommunistischer Satellitenstaaten in Osteuropa indes zu entkommen. Schwere Hungersnöte und Flutkatastrophen, die im gleichen Jahrzehnt bis zu einer Million Menschen das Leben kostete, ließen manchen „Nordkoreaexperten“ abermals mutmaßen, dass die ökonomische und humanitäre Talfahrt geradezu unvermeidlich auch einen politischen Zerfallsprozess in Gang setzen würde. Und zuletzt 2008: Kim Jong Il erlitt einen Schlaganfall und war gesundheitlich schwer gezeichnet. Sogar auf sorgsam auserwählten Propagandafotos erschien sein kümmerlich abgemagertes Wesen als karikatureskes Sinnbild für den desolaten Zustand seines Landes.
Doch nun ist die Ära Kim Jong Il vorbei und es ist jene Situation eingetreten, die sogar Experten, die eiligen Untergangsszenarien bislang skeptisch gegenüberstanden, von einem politischen Wandel träumen lassen. Nicht ohne Grund: Kim Jong Il ist es zwar im Laufe seiner siebzehnjährigen Amtszeit gelungen, sein oberstes Ziel, die staatliche Existenz und den Machterhalt seiner Nomenklatura gegen alle äußeren Unkenrufe sicherzustellen. Doch schien seine jahrzehntelang unterdrückte und ideologisch indoktrinierte Bevölkerung zuletzt keineswegs mehr so rückhaltlos wie einst hinter seinem obersten Malträteur gestanden zu haben. Im Land existiert keinerlei politische Opposition oder Zivilgesellschaft, die Pjöngjangs Führungsriege auch nur ansatzweise die Stirn bieten und ihre Macht unterwandern könnte. Und doch stehen die Vorzeichen für Kims weithin unbekannten Erben denkbar schlecht, Legitimität und absolute Gefolgschaft im Volke weiterhin zu sichern. Mit menschenverachtender Repression und wirtschaftlicher Ausbeutung zugunsten eines im Luxus schwelenden Regimes allein wird das in Zukunft nur noch schwer zu erreichen sein.
Vor allem aber sind die Zweifel, ob es Kim Jong Un – keine dreißig Jahre alt – tatsächlich gelingen wird, seine regimeinterne Machtposition zu festigen und das Erbe der Kim-Dynastie seines gottverehrten Großvaters Kim Il Sung fortzuführen, zunächst berechtigt. Der Sprössling verfügt nicht über den politischen und militärischen Erfahrungsschatz, der ihm unter den alternden Führungseliten die notwendige Autorität und Loyalität einbringen würde. Während Kim Jong Il ganze dreizehn Jahre Zeit hatte, sich auf seine Herrschaft vorzubereiten und nach innen und außen in Szene zu setzen, ist dem unscheinbaren Kim Jong Un die Möglichkeit bislang verwehrt geblieben, aus dem Schatten seines väterlichen Mentors und Protegés herauszutreten. Mit hochrangigen Regierungsvertretern anderer Länder ist er noch nicht zusammengekommen. Auch seine charismatischen Führungsqualitäten und Fähigkeiten, die verschiedenen Machtstränge zwischen Partei, Regierungsapparat und Militär zu seinen Gunsten zu manipulieren, hat er mit Hilfe seines Vaters wohl zwar kultiviert, muss sie aber erst noch unter Beweis stellen. Das wird nicht leicht werden – wie sein Vater Mitte der 1990er, so wird auch er etwaige Konkurrenten, die seine Autorität angreifen, mit Gespür und Skrupellosigkeit aus dem Weg räumen müssen. Längst ist Nordkorea keine Ein-Mann-Diktatur mehr wie noch zu Zeiten Kim Il Sungs; die autoritär-technokratischen Herrschaftsstrukturen haben sich dezentralisiert, Regimeinteressen haben sich pluralisiert. Interne Spannungen und Machtkämpfe, die ein politisches Vakuum entstehen lassen und – in der Tat – einen Zusammenbruch des politischen Systems vom Zaune brechen könnten, sind alles andere als ausgeschlossen.
Absehbar – oder gar programmiert – ist das Ende der Demokratischen Volksrepublik Korea deshalb aber noch lange nicht. Mit der Verkündung des Todes Kim Jong Ils pries die Staatspartei den Thronanwärter sogleich als „großen Nachfolger“ und forderte das indoktrinierte Volk auf, sich „unter seiner Führung zu vereinen“. Bei aller Rhetorik und bewussten Blendung der Propagandamaschinerie mag man dies als Zeichen eines systematisch ausgetüftelten Nachfolgeplans werten, der nicht ohne die Zustimmung der wirklichen „Strippenzieher“ auskommen kann. Manche einflussreichen Akteure wie Kim Jong Ils Schwester Kim Kyŏng-hŭi und ihr Ehemann Chang Sung-taek, der stellvertretende Vorsitzende der mächtigen Nationalen Verteidigungskommission und damit der offiziell zweite Mann im Staat, könnten ihren Einfluss hinter den jungen Kim werfen, mutmaßen Beobachter in Südkorea. Andere sprechen davon, dass hochrangige Parteifunktionäre und Generäle erst einmal abwarten würden, welche materiellen und politischen Machtzuwächse sie von Kim Jong Un erwarten können. Das zumindest mache einen groß angelegten Putsch, zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls, eher unwahrscheinlich, zumal dies den Status Quo der politischen Herrschaftsverhältnisse unvermittelt in Gefahr bringen würde.
Das klingt auch aus einem anderen Grund plausibel. Denn das Interesse an Stabilität, Machterhalt und Deeskalation dominiert nicht nur die Führungsriege in Pjöngjang, sondern auch die in Peking. China, die ultimative Schutzmacht und Lebensader des nordkoreanischen Regimes, hat in den letzten Jahren in die Infrastruktur im Norden der koreanischen Halbinsel enorme Investitionen getätigt, um Ressourcen wie Kohle und Eisenerz zu günstigen Preisen zu importieren. Das Szenario eines instabilen, politisch fragmentierten und zersetzten Nordkoreas – das hat die multilaterale Atomdiplomatie der Sechsparteiengespräche seit 2003 offenbart – fürchtet man in China mehr als ein nuklear gerüstetes Nordkorea. Es verwundert kaum, dass die von Kims Tod „bestürzte“ chinesische Regierung bislang keinerlei Signale ausgesendet hat, von ihrer wohlwollenden Haltung gegenüber Pjöngjang abrücken zu wollen, im Gegenteil. Solange es keine Alternative zu Kim Jong Un und die ihn umgebenden Führerköpfe gibt, die Stabilität verspricht, wird China keine Experimente wagen und sich auch hinter den pausbäckigen Novizen und seine Führungsclique stellen.
In unmittelbarer Zukunft wird es also darauf ankommen, ob Kim Jong Un in der Lage sein wird, seinen Machtstatus als neuer „Führer“ auch nach außen zu konsolidieren und den Rückhalt der Potentaten in Partei und Militär zu gewinnen. Die für Ende Dezember anberaumte Trauerzeremonie, die der junge Kim als Vorsitzender einer hochrangigen Kommission leiten wird, könnte ihm dafür bereits die erste Gelegenheit bieten.
Roland Hiemann arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.