Der frustrierte Weltenbummler

[Göttinger Köpfe]: Robert Lorenz über den Physiker Werner Heisenberg

Wissenschaft und Politik – diese beiden Berufs- und Tätigkeitsfelder werden gemeinhin als völlig unterschiedliche Sphären begriffen. In der Politik, so eine gängige Meinung, gehe es um Macht, Intrigen und Privilegien. In der Wissenschaft herrsche indessen ein anderes Ethos vor, das sich der Suche nach Wahrheit, nach Erkenntnisgewinn, dem Wege zu neuem Wissen verschrieben habe. In der Politik sei vieles irrational, wohingegen die Wissenschaft strenger Rationalität unterworfen sei. Der berühmte Kernphysiker Werner Heisenberg, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 110. Mal jährt und der zwischen 1946 und 1958 in Göttingen lebte, forschte und lehrte, bewegte sich an der Schwelle zwischen diesen beiden Gebieten. Dabei verhielt er sich mitunter sehr politisch, stets durchsetzungsstark und zielstrebig.

Doch eigentlich präsentiert sich Heisenberg dem historischen Beobachter als ein Vertreter der Wissenschaft par excellence. Am 5. Dezember 1901 in Würzburg geboren, wuchs er in München auf, wo er das elitäre Maximiliansgymnasium besuchte. Nach seinem Abitur absolvierte er eine akademische Turbokarriere: Im Alter von 21 Jahren war er 1923 promoviert, ein Jahr später hatte er sich habilitiert. Anschließend lehrte und forschte er inmitten der pulsierenden Kernphysikzentren jener Zeit: Göttingen, Kopenhagen, Leipzig und Berlin. Binnen kurzer Zeit avancierte er mit gerade einmal 26 Jahren zum jüngsten Lehrstuhlinhaber des Deutschen Reiches – immer der Beste, stets der Schnellste. Bereits 1932 ließ ihm die Wissenschaftswelt die honorigste ihrer Auszeichnungen zuteilwerden: den Nobelpreis für Physik. Mit seinen Formeln und Theorien gehörte Heisenberg in jungen Jahren zu den Urvätern der Quantenmechanik, welche die moderne Physik revolutionierte.

Werner Heisenberg (r.); Foto: Stadtarchiv Göttingen

Heisenberg war ein geradezu fanatischer Denker und Forscher. In seinem Genius paarten sich Fleiß und Konzentrationsfähigkeit, die ihm zu Höchstleistungen verhalfen. Kaum eine Sekunde verging an einem Heisenberg’schen Arbeitstag, an dem seine Gedanken nicht um das Atom kreisten. Wenn er dabei war, scheinbar unauflösliche Probleme zu lösen, war er von Freude und Glück erfüllt. Seine Frau Elisabeth jedenfalls musste sich damit arrangieren, dass ihr Mann in mancher Nacht schweißgebadet aufschreckte, weil ihm die naturwissenschaftlichen Gedanken wieder einmal den Schlaf geraubt hatten. Jedenfalls: Allen Erfolgen zum Trotz wollte Heisenberg forschen, immer weiter forschen. Sein „Kerngebiet“ war seit Ende der 1930er Jahre die atomare Energiegewinnung – damals der letzte Schrei der Naturwissenschaften. Während des Zweiten Weltkriegs konzentrierte er sich unablässig auf das Ziel, einen „Uranbrenner“ zum Laufen zu bringen – eine Art prähistorischen Atomreaktor. Doch in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 scheiterten seine Versuche.

Heisenberg aber entsprach trotz der genannten Marotten und seiner Genialität nie dem verbreiteten Stereotyp des selbstvergessenen, im Elfenbeinturm abgeschotteten Wissenschaftlers. Vielmehr zeigte er etliche Qualitäten, die auch zum Instrumentarium eines versierten Politikers gehören. So wusste er Rivalen – ähnlich genial veranlagte Denker zumeist – geschickt zu sabotieren und konsequent aus dem Weg zu räumen. Während des Zweiten Weltkriegs nutzte er seinen Einfluss, um eine konkurrierende Forschungsgruppe des Kernphysikers Kurt Diebner daran zu hindern, die wissenschaftliche Leitung im deutschen Atomprojekt zu erlangen. Durch eine Intrige stürzte er Diebner von der Spitze des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik und wurde selbst Direktor. Auch suchte er knappe Rohstoffe wie Uran von Diebner fernzuhalten; dass dieser eine Reaktorkonstruktion ausgetüftelt hatte, die Heisenbergs Modell überlegen war, interessierte dabei nicht. In den 1950er Jahren nutzte Heisenberg dann seine Führungspositionen in diversen Gremien und Forschungsorganisationen, um sich begabte Konkurrenten vom Leibe zu halten – und natürlich musste auch Diebner wieder büßen, der unter dem Einfluss Heisenbergs nie zu einer Professur kommen sollte.

Außerdem wusste sich Heisenberg stets machtvolle Verbündete zu suchen. Im Dritten Reich wandte er sich an den „Reichsführer-SS“ Heinrich Himmler, um sich gegen Diffamierungen nationalsozialistisch gesinnter Wissenschaftler zur Wehr zu setzen. Doch seine wissenschaftspolitische Karriere erreichte ihren Höhepunkt erst in den 1950er Jahren. Die britischen Besatzungsbehörden hatten ihn nach Göttingen beordert – eine zunächst glückliche Fügung, war die niedersächsische Universitätsstadt doch im Gegensatz zu den meisten anderen urbanen Gebieten vom Bombenkrieg weitgehend verschont, waren die Universitätsgebäude unzerstört geblieben und bot sich ein für jene Zeit annehmliches Lebensumfeld. Dennoch befanden sich Heisenberg und seine andernorts gelandeten Kollegen damals in einer misslichen Situation: Viele ihrer einstigen Forschungsstätten lagen in Trümmern, obendrein betrieb man experimentelle Kernphysik inzwischen mit gigantischen Anlagen, deren Beschaffung und Betrieb Millionensummen verschlangen. Also wandte sich Heisenberg an den Regierungschef der neuen Republik, Konrad Adenauer. In kurzer Zeit avancierte er von Göttingen aus zum Chefberater des neuen Kanzlers in wissenschaftlichen Fragen. In seinem Haus in der Merkelstraße 18 schmiedete er Pläne für die Zukunft der westdeutschen Wissenschaft. Eine ganze Zeitlang waren die beiden ein ideales Gespann: Heisenberg, der angesehene und famose Experte, und Adenauer, der beschlagene Politiker und Machtträger. Beide profitierten voneinander: Der Kanzler konnte seine forschungspolitischen Maßnahmen mit dem Rat Heisenbergs rechtfertigen und der Wissenschaftler auf die politische Unterstützung Adenauers hoffen.

Heisenbergs Wohnhaus in Göttingen; Foto: Johannes Habenbacher

Denn der Kanzler stellte dem ambitionierten Kernphysiker ein Forschungszentrum in Aussicht. Heisenberg schwebte eine Großanlage vor, wie seine US-amerikanischen und britischen Kollegen wollte er big science betreiben – am liebsten in München, seiner Heimatstadt. Doch jäh kam alles anders. Adenauer entschied 1955 gegen Heisenbergs Willen, siedelte das Zentrum bei Karlsruhe an, fernab der bajuwarischen Bergidylle, um Baden-Württemberg und vor allem der württembergischen CDU einen Gefallen zu erweisen. Heisenberg indes lehnte die wissenschaftliche Leitung des neuen Kernforschungszentrums ab und ging mit seinem Göttinger Institut nach München. Außerdem blieb die finanzielle Unterstützung des Bundes weit hinter Heisenbergs Erwartungen zurück. Der Kanzler und sein Finanzminister sparten in den Jahren der Wiederbewaffnung nämlich nicht für Laboratorien und Teilchenbeschleuniger, sondern für Kasernen und Panzer. Der einige Jahre lang beiderseits lukrative Austausch funktionierte nun nicht mehr. Heisenberg war der Politik verdrossen, hatte kein Verständnis für Adenauers politischen Kalküle und Manöver.

Nun allerdings zeigten sich seine politischen Qualitäten: Heisenberg begann, die Politik der Bundesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu verunglimpfen: in Interviews, Artikeln, Reden. Allerorten ließ er verlautbaren, wie nachteilhaft die Wissenschaftspolitik des Kanzlers und seines Kabinetts doch für die Entwicklung des Landes sei. Darüber hinaus nahm er zu einer interfraktionellen Parlamentsgruppe Kontakt auf, die er für kontroverse Debatten mit reichlichen Argumenten gegen die Regierungspolitik versorgte. Kurzum: Heisenberg suchte Politik zu machen, ohne sich selbst in die Politik zu begeben, sich um die Organisation demokratischer Mehrheiten zu scheren oder sich der Kritik der Öffentlichkeit auszusetzen. Durch persönlichen Kontakt zu entscheidungsrelevanten Personen strebte er jenseits regulärer Pfade nach Einfluss, diskreditierte politische Gegner, organisierte sich eine parlamentarische pressure group. Ein reiner, gänzlich seinem Forschungsmaterial gewidmeter Wissenschaftler war er somit keineswegs.

Doch wie so oft bei politischen Quer- oder Beinaheeinsteigern stärkte der Wandel zwischen den beiden Welten nicht das gegenseitige Verständnis, sondern verhärtete Vorurteile oder rief Verständnislosigkeit hervor. Für Heisenberg war die Politik mitsamt ihren Protagonisten unbegreiflich behäbig, schwer verständlich, zu „objektiv“ richtigen Entscheidungen nahezu unfähig. Andersherum zeigte sich Adenauer über die politischen Interventionen des Experten Heisenberg verärgert, betrachtete diesen als einen weltfernen Naivling. Jedenfalls: Beide waren Repräsentanten zweier Welten, die sich in mancher Verhaltensweise zwar ähnelten, sich aber schon nach kurzer Zeit entfremdet hatten. Keiner von beiden wollte sich auf die Charakteristika, Vernunftvorstellungen und Marotten des anderen und dessen Metier einlassen. Die Gewohnheiten und Logiken beider Herkunftsbereiche, das jeweilige Streben, die vertrauten Muster auch im anderen Gebiet anzuwenden, verhinderten gegenseitiges Verständnis und vertieften das beiderseitige Misstrauen. Sein Hang zu wissenschaftlicher Rationalität sowie seine Vorliebe für die autoritäre Entscheidung verhinderten, dass Heisenberg in der Politik zurechtfinden konnte.

Ende der 1950er Jahre verließ der Nobelpreisträger Göttingen, in das er schließlich nur auf Geheiß der Briten gekommen war und aus dem er während seiner Jahre dort stets hatte weggehen wollen. Es zog ihn in seine bayerische Heimat. In München fand er zudem bessere Forschungsbedingungen vor – durch seine Entscheidung verlor Göttingen daraufhin das renommierte Max-Planck-Institut für Physik, das aufgrund von Heisenbergs Sehnsucht nach alpiner Idylle seither seinen Standort in München hat.

Robert Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Ein weiterer Blog-Beitrag zum Thema „Protest der Physiker“ findet sich hier.