[analysiert]: Michael Freckmann über den Konflikt in der Union über Merkels Asylpolitik
„Wir sind die Volkspartei der Mitte“, hörte man oft auf dem CDU-Parteitag im vergangenen Dezember 2015 – und das nicht ohne Grund. Fast jeder Zweite erkennt in den letzten fünf Jahren in der deutschen Gesellschaft eine Entwicklung nach „rechts“.[1] Kommentatoren meinen, es liege eine „Wirtshausschlägereistimmung“[2] über dem Land. Pegida und v.a. die AFD haben regen Zulauf, auch schon vor der starken Zunahme der Flüchtlingszahlen. Bisher hat es so ausgesehen, als würde die CDU als Volkspartei rechts der Mitte dieser Stimmung nicht nachgeben. Doch stellt sich nun die Frage, ob sie sich in der gegenwärtigen sich zuspitzenden gesellschaftlichen Lage nun doch davon beeindrucken lässt.
Eine solche „Rechtsverschiebung“ drückt sich einerseits in fremdenfeindlichen und nationalistischen Forderungen aus. In manchen Teilen der Gesellschaft befördert die Flüchtlingssituation gerade solcherlei Einstellungen. Aber auch ein Rückzug auf konservative Politikinhalte ist Ausdruck dessen. Grund hierfür ist auch eine sich seit Längerem schleichend vollziehende gesellschaftliche Verunsicherung der mittleren Gesellschaftsschichten. Eine Differenzierung zwischen bürgerlich-konservativen und rechts-nationalen Kräften ist hierbei also insbesondere mit Blick auf die CDU wichtig. Denn erstere sind traditionell ein Flügel der Partei, von den anderen wird sich vehement abgegrenzt.
Eine AfD von Höcke, Petry und Gauland ist für viele Mitglieder der CDU gegenwärtig zu extrem und daher unattraktiv. Auch wenn es beispielsweise in Baden-Württemberg oder Rheinland-Pfalz möglicherweise moderatere Landesverbände geben mag, bestimmen doch erstere das Bild in der öffentlichen Debatte. Denn Bürgerlichkeit als Wesensmerkmal der CDU-Mitgliedschaft zeichnet sich u.a. durch die Ablehnung vom Extremen aus; vielmehr sind Ausgewogenheit und Integration verschiedener Positionen ihr Markenzeichen.[3] Gleichzeitig nimmt die bayerische Schwesterpartei aktuell umso mehr die Funktion des Lautsprechers für Positionen jenseits des Kurses der CDU-Führung wahr. Argumente wie sie die CSU vertritt, werden somit weithin nicht zwischen Opposition und Regierung, sondern unter den Schwesterparteien in der Regierungskoalition verhandelt.
Merkels bisheriger Modernisierungskurs hat sich auf die Arbeitsmarkt-, Familien-, Ausländer-, und Umweltpolitik erstreckt. Mit ihrer Öffnung für neue Wählerschichten, besonders in der urbanen Klientel, hat die Partei bereits einen langen Weg zurückgelegt. Auch auf dem Parteitag 2015 wurde dieser Weg mit den Zukunftskommissionen für „Nachhaltigkeit“ und für „Gesellschaftlichen Zusammenhalt“ weiter beschritten. Auf die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz ist sich verständigt worden, der Islam wird nun als Teil Deutschlands beschrieben. Vor allem der ehemals hoch umkämpfte Begriff der Leitkultur taucht nun als „unsere freie, demokratische, offene und tolerante Staats- und Gesellschaftsordnung“[4] auf.
Gegen Merkels Modernisierungskurs, der sich näher am alten sozial-katholischen denn am liberalen oder konservativen Teil der Partei orientiert, hat sich schon seit Längerem und immer wieder Widerstand geregt. Die Verfasser des Textes „Moderner bürgerlicher Konservatismus“ von 2007 konnten sich allerdings ebenso wenig durchsetzen wie einzelne langjährige Vertreter dieser Richtung wie etwa Wolfgang Bosbach oder Erika Steinbach. Neben dem Umstand, dass das ehemalige konservative Profil seit Jahren schrittweise abgeschliffen worden ist, sind auch keine Personen in Sicht, die einen wirklichen konservativen Schwenk verkörpern würden. Darüber hinaus fehlt ein organisiertes, sie tragendes Fundament in der Partei. Die einzigen solcher Vereinigungen, die zu Merkel gelegentlich in Widerstreit stehen und dies auch äußern, sind der Wirtschaftsflügel mit der Mittelstandsvereinigung sowie die Junge Union. Für breite Mehrheiten stehen sie aber beide nicht.
Der Grund für die Schwäche der Konservativen ist struktureller Natur und liegt darin, dass es ihren Vertretern nicht gelungen ist, ein umfassendes politisches Programm vorzulegen, das auf Mehrheiten in der Gesellschaft treffen könnte[5] und das über die gegenwärtig gelegentlich vorgebrachten einzelnen Vorstöße bei den Themen Ehe, Familie und innere Sicherheit hinausgeht. Anders als von kleineren Parteien ist dies von einer regierenden „Volkspartei“ jedoch gefordert. Gegenwärtig werden v.a. symbolpolitische Forderungen vorgebracht. Die im rheinland-pfälzischen Wahlkampf stehende Julia Klöckner diskutiert über ein „Burkaverbot“ und nimmt vorerst Abstand von dem auf dem Parteitag beschlossenen, noch einzuführenden „Einwanderungsgesetz“. Der in Baden-Württemberg wahlkämpfende Guido Wolf fordert einen „Integrationsführerschein“.
Dennoch ist dies mehr als nur eine Art Beschwichtigung für die konservative Seite der Partei, um den für sie wichtigen Flügel zu integrieren. So übernimmt gerade das „C“ im Parteikürzel zunehmend die Funktion einer Brücke[6] zwischen den Lagern in der CDU. Denn auch in der Flüchtlingskrise appellierte Merkel an das Selbstverständnis als christliche Partei, das zur Humanität im Umgang mit Flüchtlingen verpflichte.
Neben der seit Langem anhaltenden strukturellen Schwäche der Konservativen sowie auch des bereits zurückgelegten Reformkurses der Partei kommt ein koalitionspolitischer, und damit machtperspektivischer, Grund hinzu. Das Wahlergebnis der Union bei der letzten Bundestagswahl 2013 ist eben auch innerparteilich eine Bestätigung von Merkels politischem Kurs gewesen. Und bei der diesjährigen Landtagswahl im für die CDU so wichtigen Baden-Württemberg kämpft die Partei um Wähler, die 2011 u.a. nach Merkels Atomlaufzeitverlängerung und dem Kernkraftwerksunfall in Fukushima noch eine grün-rote Mehrheit hervorgebracht haben.
In der Flüchtlingspolitik allerdings steht die CDU mit ihrer Mitgliederschaft einer besonderen Herausforderung gegenüber: Sie muss dem für die bürgerliche Klientel so wichtigen Bedürfnis nach Überblick und Planbarkeit nachkommen. Der im Vorfeld des Parteitages in der Öffentlichkeit erwartete Stimmungsumschwung in der Flüchtlingskrise ist ausgeblieben; wohl wesentlich wegen der demonstrierten „Geschlossenheit“ in der Partei, noch dazu vor dem Hintergrund des zuvor abgelaufenen SPD-Parteitags.
In einer sich verschärfenden Stimmung in der Gesellschaft, wie sie gerade zu beobachten ist – der Spiegel spricht von „Staatsohnmacht“[7] –, könnte ein Bedürfnis nach Wertkonservativem wie Orientierung und Geschwindigkeitsreduktion aufkommen – gerade nach den Ereignissen in Paris, Köln und Istanbul auf dem für die Partei wichtigen Feld der inneren Sicherheit. Die Forderungen von Unionspolitikern nach mehr Abschiebungen[8] zeigen genau dies. Solche politischen Maßnahmen stehen aber immer auch zwischen der Gefahr der potenziellen Abschreckung bisher neu dazugekommener Wähler und der Herausforderung, in Regierungsverantwortung tatsächlich umgesetzt werden zu müssen.
So steht die CDU, die sich in den letzten Jahren durch „situativen Pragmatismus“[9] hinsichtlich verschiedener Lager ausgezeichnet und mit dieser programmatischen Zusammenstellung bisher im Bund Erfolg gehabt hat, stark unter Druck, dieses erreichte Gleichgewicht zu erhalten und nicht kippen zu lassen. In der Flüchtlingspolitik scheint die Partei auf den gesellschaftlichen Trend reagieren zu wollen. Dabei fällt bisher aber auch auf, dass in den aktuellen Aktivitäten auf diesem Gebiet die Diskrepanzen zu SPD und Grünen nur sehr gering sind und die Politik keinen Vergleich darstellt zum früheren Agieren konservativer Politiker wie Roland Koch, Uwe Schünemann oder Jörg Schönbohm.
Dass sich in anderen politischen Feldern gar eine Rückkehr auf alte konservative Forderungen vollziehen könnte, erscheint nicht sehr wahrscheinlich. Auch wenn dies sehr stark an Merkel und ihrem Führungsumfeld selbst hängt, hat sich die CDU zu sehr strukturell verändert. So reagiert die Partei auch daher zögerlich in der Flüchtlingspolitik, um ihr abgelegtes Image nicht wieder heraufzubeschwören. Die nächste Zielmarke sind jetzt die kommenden Landtagswahlen, von deren Dynamiken das weitere Verhalten der Partei abhängt.
Michael Freckmann arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Weitere Texte zur Entwicklung der CDU unter Angela Merkel finden sich hier.
[1] Schneider, Philipp: Rechtsruck in Europa: Jeder zweite Deutsche sieht politischen Wandel in der Gesellschaft, in: YouGov, URL: https://yougov.de/news/2015/12/22/rechtsruck-in_europa_2/ [eingesehen am 16.01.2016].
[2] Feldenkirchen, Markus: Deutsche Verrohung: Was ist nur aus diesem Land geworden?, in: Spiegel Online, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/markus-feldenkirchen-ueber-die-verrohung-deutschlands-a-1060807.html [eingesehen am 16.01.2016].
[3] Reckwitz, Andreas: Wie bürgerlich ist die Moderne? Bürgerlichkeit als hybride Subjektivierungsform, in: Bude, Heinz/Fischer, Joachim/Kauffmann, Bernd: Bürgerlichkeit ohne Bürgertum, in welchem Land leben wir?, München 2010, S. 176 ff.
[4] Karlsruher Erklärung zu Terror und Sicherheit, Flucht und Integration, S. 21. Zur Begriffsgeschichte von „Leitkultur“ siehe Walter, Franz/Werwarth, Chritian/D’Antonio, Oliver: Die CDU, Stuttgart 2011, S. 191 ff.
[5] Vgl. ebd., S. 196 f.
[6] Siehe ebd., S. 223 ff.
[7] Die Titelgeschichte des SPIEGEL 3/2016 heißt: „Staatsohnmacht: Rechtsfreie Räume, hilflose Polizei – können wir uns noch sicher fühlen?“
[8] Schuler, Katharina: Durchdrehen hilft nicht, in: Zeit Online, URL: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-01/andreas-scheuer-peter-tauber-fluechtlinge [eingesehen am 16.01.2016].
[9] Wagner, Andreas: Die europäischen Christdemokratien im Vergleich, Springer, Wiesbaden, 2014, S. 277.