[gastbeitrag]: Manuel Clemens über die Potenziale des politischen Bildungsromans
Politik und Bildung sind eigentlich eng miteinander verbunden. Der gegenwärtige Populismus könnte ihre Beziehung jedoch auf ganz neue Art verdichten: Als die Französische Revolution um 1793 zu brutal geworden war, begann Friedrich Schiller mit der Ausarbeitung eines schöngeistigen Gegenprogramms. Wenn der plötzliche Umsturz der politischen Verhältnisse, so sein Grundgedanke, aus dem Ruder läuft und selbst zu einer Schreckensherrschaft wird, dann sollte eine Revolution besser nicht politisch, sondern ästhetisch sein.
Eine ästhetische Revolution würde nämlich nicht als erstes versuchen, die äußeren politischen und sozialen Verhältnisse zu verändern, sondern zunächst nur auf das Innere der Menschen abzielen. Dies müsste zuerst mit Kunst und Literatur gebildet werden; und erst dann, wenn eine innere Reife ausgeprägt wäre, könnte Schiller sich vorstellen, dass der Mensch auch über die Fähigkeit verfügt, die sozialen Verhältnisse zu verbessern.
Macht er sich stattdessen, wie 1789, im unreifen Zustand an eine revolutionäre Veränderung, dann sind die politischen Ideen nur Kopfgeburten, von denen man nicht weiß, wie sie in die Praxis umgesetzt werden sollen – und mangels dieses Wissens greift man dann zu Zwang, Gewalt, Diktatur und Guillotine.
Dieser Verbesserungsvorschlag Schillers wurde zur Grundlage des humanistischen Bildungsgedankens. Allerdings besteht hier das Problem, dass ästhetische Ideen letztlich genauso theoretisch sind wie politische Utopien. Der Weg von der Kunst in die Politik ist ebenso schwierig wie der von der Revolution zur gerechten Gesellschaft.
Der ästhetische Bildungsroman, der Schillers Grundgedanke literarisch ausarbeitet, zeigt deshalb oft Protagonisten, die auf dem Weg von ihrem ästhetisch ausgebildeten Inneren in die soziale Praxis auf halbem Wege stecken bleiben. Sie wollen mit Begeisterung Künstler werden, verdienen damit aber kein Geld und erlangen deshalb auch keinen Einfluss zur Gestaltung der Gesellschaft. Goethes Wilhelm Meister zeigt diesen Konflikt in seiner klassischen Ausprägung: Wilhelm ist musisch veranlagt und möchte Theaterschauspieler werden, während sein Vater ein Kaufmann ist und aus seinem Sohn ebenfalls einen Kaufmann machen will. Folglich spielt der Roman den Konflikt zwischen Vater und Sohn, zwischen Künstler und Kaufmann, zwischen Bürger und Träumer durch. Am Schluss siegt die reale Welt und Wilhelm hat sie nicht verändert.
Dennoch hat das ästhetische Projekt Erfolg. Schillers Utopie ließ sich zwar nicht verwirklichen, jedoch wurde die Notwendigkeit eines sinnlichen Gegenpols zur seelenlosen Machbarkeit allgemein anerkannt. Schillers Forderung nach einer ausgleichenden Sinnlichkeit findet sich auch bei Nietzsche und Freud – zwei Denkern, die mit ihrer Unterscheidung zwischen einem entgrenzenden Lustprinzip und einem die Grenzen wieder einfordernden Realitätsprinzip das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben. Und denkt man an die 68er-Bewegung, dann war diese auch ein Protest gegen zu wenig freie Liebe und sinnliche Einschränkung. Für die Gegenwart lässt sich sogar eine grundlegende Tendenz zur Ästhetisierung ausmachen, die zeigt, dass nicht nur jeder Mensch ein Künstler sein kann, sondern Kreativität und Arbeit auch zusammenkommen können, ja dieser Zusammenschluss von manchen Branchen geradezu erwartet wird.
Welche Rolle soll nun aber der politische Bildungsroman spielen? Hatte mit Schiller und Goethe das Sinnliche Einzug in den Bedürfniskatalog des Menschen gehalten, weil dieses in der Gesellschaft fehlte, so zeigt sich gegenwärtig kein Mangel aufseiten der Sinnesfreude, sondern eine intellektuelle Lücke: Seit „PEGIDA“, AfD und Trump muss sich das liberale und reflektierte Bewusstsein stärker verteidigen als früher. Dabei kann es seine Positionen nicht als selbstverständlich betrachten, sondern muss sich im Konflikt mit seinen Gegnern neu positionieren, was einer Stärkung der politischen Subjektivität bedarf.
Und wo könnte dieser Konflikt besser diskutiert werden als im Bildungsroman? Er könnte diesen Konflikt – in dem sich das liberale Bewusstsein selbst ja auch verheddern, blind sein oder durch und durch Unrecht haben kann – zunächst einmal anerkennen und in dieser Ausrichtung zwischen Toleranz und Intoleranz, seriöser Analyse und Populismus sowie Demokrat und Zwangsdemokrat durcharbeiten. Stand für Goethe außer Frage, dass es ein musischer Wilhelm Meister schwer haben würde, so müsste der politische Bildungsroman von den Schwierigkeiten handeln, ein liberaler Demokrat zu werden, und dürfte keinesfalls (in der Art von Schillers Utopie) so tun, als würde sich sein Protagonist selbstredend zu einem Bildungsbürger entwickeln. Eine Romanform, die sich mit dem Für und Wider liberaler Staats- und Lebensformen beschäftigt, würde letztendlich den liberalen Geist schärfen und dort prüfen, wo er in seiner unerträglichen Leichtigkeit nur Phrase oder Pathos ist.
Weil Populisten über eingängige Metaphern und trickreiche Narrative verfügen, sollten diese aufgenommen, differenziert und mit nicht-populistischen Fakten weiter ausfiktionalisiert werden. Das Ergebnis könnte bspw. ein Roman über den Bau der Mauer an der US-Grenze zu Mexiko im Stile von Roberto Bolaño, Jonathan Franzen oder Dietmar Dath sein. Darüber hinaus könnte ein politischer Bildungsroman die Verunsicherung vieler Nicht-Populisten verhandeln. Populisten überzeugen ja nicht nur ihre Wähler, sondern attackiere#n auch diejenigen, die sie nicht wählen – was bei letzteren zu unfreiwilligen Selbstzweifeln führen kann, für die es oft kein Forum gibt.
In den 1980er Jahren vertrat Odo Marquard die These, dass es die Aufgabe der Geisteswissenschaften sei, die Verluste der technisch-entfremdeten Welt zu kompensieren. Dieser Anspruch kann jetzt reformuliert werden: Die neue Aufgabe der Geisteswissenschaften sollte in der Kompensation populistischer und antiliberaler Welten liegen sowie in der Herausforderung demokratischer Großthesen. Auch wenn dieser Vergleich mit einem Tiger beginnt und mit einem Bettvorleger endet: Was die Französische Revolution für den ästhetischen Bildungsroman gewesen ist, das sind „PEGIDA“, AfD und Trump für den politischen Bildungsroman. Erstere verlangte nach einer ästhetischen Innerlichkeit, Letzteres nach einer politischen.
Prof. Dr. Manuel Clemens ist derzeit Visiting Assistant Professor an der Rutgers University in den USA und unterrichtete zuvor in Mexico City und Lüneburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien der Bildung, Bildungsroman sowie Populismus und das Konzept des „autoritären Charakters“ der Frankfurter Schule.