Politische Lehrjahre in Göttingen

[Göttinger Köpfe]: Philipp Kufferath über den Sozialwissenschaftler Peter von Oertzen

Eine Welle der Empörung wogt im Frühsommer 1955 durch Deutschland, als Leonard Schlüter zum Kultusminister Niedersachsens ernannt werden soll. Sogar internationale Medien kommentieren dieses Ereignis der niedersächsischen Landespolitik kritisch. Rektor Emil Woermann und der Senat der Georg-August-Universität Göttingen legen aus Protest ihre Ämter nieder, der Asta ruft zum Vorlesungsboykott auf und organisiert einen Fackelzug durch die Stadt an der Leine. Schlüter war nicht nur in den Augen der Göttinger Öffentlichkeit als Verleger nationalistischer Autoren und strammer Vertreter des rechten Flügels der FDP für das Amt des Kultusministers denkbar ungeeignet.

Im Landtag begründet der frisch gewählte 30-jährige Politikwissenschaftler Peter von Oertzen aus Göttingen in seiner ersten Rede die ablehnende Haltung der SPD. Er schildert in einem selbstbewussten Beitrag, gespickt mit Zitaten und Anspielungen, die Göttinger Erfahrungen mit Schlüter in der Vergangenheit, berichtet von offenen Strafverfahren und Wahlkampfauftritten mit Reichskriegsflagge und Marschmusik. Zu diesem Zeitpunkt ist Schlüter allerdings bereits zurückgetreten, der entschiedene Protest der Göttinger hatte Wirkung gezeigt.

Dabei war Peter von Oertzen in den Wirren der Nachkriegszeit eher unfreiwillig in Göttingen gelandet, und auch seine politische Position war zehn Jahre zuvor noch eine deutlich andere. Als Leutnant der Reserve gerät er verwundet in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Entlassung im Herbst 1945 gibt es für ihn von Kassel aus allerdings kein Durchkommen in seine Heimatstadt Berlin. Stattdessen erreicht der 21-Jährige nach mehrtägiger Fahrt das niedersächsische Wendland, wo er sich auf dem Gut seiner Stiefmutter Margarete von Hardenberg von den Entbehrungen und Verwundungen des Krieges erholt. Zwei Einsätze an der Ostfront hinterließen bleibende Schäden am Sprunggelenk und an der Hüfte. Auch sein bisheriges Weltbild ist nach der Kriegsniederlage erschüttert. Durch eine intensive Auseinandersetzung mit den reichhaltigen Buchbeständen seines im Krieg gefallenen Vaters sucht er in den nächsten Monaten nach Erklärungen und Wegweiser.

Da die Universität im nahe gelegenen Göttingen als erste Hochschule bereits zum Wintersemester 1945/46 wieder den Betrieb aufgenommen hatte, steht bald der Entschluss, hier mit dem Studium zu beginnen. Doch dafür muss Peter von Oertzen zunächst in Uelzen eine weitere Abiturprüfung ablegen, da sein Notabitur von 1942 nicht zum Studium berechtigt. Schließlich kann er sich im November 1946 für ein Studium der Philosophie, Geschichte und des Staatsrechts an der Georgia Augusta immatrikulieren.

Die Studienbedingungen sind zunächst denkbar schlecht. Auch wenn Göttingen von alliierten Bomben weitgehend verschont geblieben war, sind die Verwerfungen der Nachkriegszeit auch hier allgegenwärtig. Vor allem die Wohnungsnot und der Mangel an Lebensmitteln beeinträchtigen das Leben der Studenten. Viele der ersten Nachkriegsstudenten sind durch eigene Kriegserfahrungen gezeichnet und sitzen mit ihren abgewetzten und umgefärbten Militärmänteln in den ungeheizten Hörsälen. Peter von Oertzen findet zwar dank der Kontakte seiner adligen Verwandtschaft ein einfaches Zimmer, besitzt jedoch sonst fast nichts und lebt zunächst vom Verkauf seiner Zigarettenmarken. 1949 kann er dann als einer der ersten in die neugegründete akademische Burse in der Goßlerstraße einziehen.

Er platzt förmlich vor Bildungshunger. Bereits in seiner Jugend hatte der bildungsbürgerliche Haushalt seiner alleinerziehenden Mutter in Berlin-Charlottenburg einen umfangreichen Buchkanon geboten, auf den er sich eifrig stürzte. Sogar während der dreijährigen Militärzeit hatte er, soweit möglich, stets ein Buch zur Hand. In den ersten Semestern belegt er nun fast alle Veranstaltungen in Philosophie und Geschichte, teilweise sind es bis zu vierzig Wochenstunden pro Semester. Gerade die historischen Seminare von Werner Conze und Hermann Bollnow regen ihn zum Nachdenken an. Ab 1948 schreibt er Rezensionen und kurze Artikel für die Göttinger Universitätszeitung (ab 1949 Deutsche Universitätszeitung), einem gemeinsamen Projekt von Professoren und Studenten, das sich zahlreichen allgemeinpolitischen und innerwissenschaftlichen Themen zuwendet.

Außergewöhnlich sind seine politische Neugierde und sein rhetorisches Talent. Gleich nach der Immatrikulation sucht er das örtliche SPD-Büro auf und registriert sich als Mitglied. Dort erfährt er, dass am Abend die Gründungsversammlung eines Sozialistischen Deutschen Studentenbundes geplant ist. Hier wird er auch prompt zum Vorsitzenden der Göttinger Gruppe gewählt. Der SDS ist in den nächsten Jahren der Mittelpunkt seiner politischen Tätigkeit. Hier lernt er nicht nur Wilhelm Hennis und Horst Ehmke kennen, die später wissenschaftlich und politisch Karriere machten, sondern auch seine Frau, Ursula Siebrecht, Tochter eines bekannten Hannoveraner Architekten. Sie heiraten 1950 und ziehen bald darauf zusammen. In den nächsten Jahren bekamen die beiden zwei Töchter.

Ehemaliges Wohnhaus von Peter von Oertzen in Göttingen (Foto: Johannes Habenbacher)

Eine Aktion, an der Peter von Oertzen beteiligt ist, macht 1952 Schlagzeilen. Als in Göttingen die erste Aufführung des Films „Hanna Amon“ im Central-Kino in der Barfüßerstraße ansteht, organisieren sie eine Störaktion. Der Regisseur des Films, Veit Harlan, hatte sich mit dem Film „Jud Süß“ in den Dienst der nationalsozialistischen Propaganda gestellt. Die Proteste vor dem Kino werden heftig attackiert, es kommt zu antisemitischen Beschimpfungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Korporierten und ehemaligen SS-Mitgliedern. Ehmke wird von ihnen durch die Stadt gejagt. Wenige Tage später erklären sich 48 Professoren mit den Protesten gegen Veit Harlan solidarisch, auch in anderen Städten kommt es zu ähnlichen Aktionen.

Gemeinsam mit Hennis und Ehmke besucht er auch das Oberseminar des Staatsrechtlers Rudolf Smend, wo die drei schnell zur tonangebenden Fraktion avancieren. Aber auch der aus der Emigration zurückgekehrte Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner entwickelt eine Anziehung auf von Oertzen. Das Fach Soziologie war bis dahin in Göttingen nicht vertreten. 1951 entschließt sich von Oertzen gar, eine soziologische Arbeit über die Entwicklung des Staatsrechts als Dissertation aufzunehmen. Smend und Plessner werden seine Betreuer.

Als die Promotion 1953 abgeschlossen ist, befindet sich Peter von Oertzen in einem schwierigen Suchprozess. In den nächsten Jahren geht er verschiedene Wege parallel und ist dadurch zahlreichen Spannungen und Rollenkonflikten ausgesetzt. An der Universität Göttingen bekommt er am neugegründeten Soziologischen Institut bei Helmuth Plessner zunächst eine Stelle in einem Forschungsprojekt über die Lage der deutschen Hochschullehrer. Hier arbeitet er unter anderem mit Dietrich Goldschmidt, Christian von Ferber und Christian Graf von Krockow zusammen. So richtig identifizieren kann er sich mit der kleinteiligen empirischen Forschung jedoch nicht, nach Aussagen seiner Kommilitonen ist er nur sporadisch anwesend. Stattdessen knüpft er überregionale Kontakte zu Linkssozialisten verschiedener Richtungen und gibt mit ihnen ab 1954 eine kleine Zeitschrift, die Sozialistische Politik heraus. Von Oertzen schreibt hier zunächst unter Pseudonym. Gleichzeitig wird er aber als SPD-Mitglied in Göttingen aktiver. Der junge Wissenschaftler wird als Direktkandidat für die Landtagswahl nominiert und setzt sich 1955 überraschend gegen den bisherigen Mandatsträger, immerhin der Oberbürgermeister Hermann Föge (FDP), durch.

Der gerade einmal Dreißigjährige ist nun Landtagsabgeordneter, Zeitschriftenherausgeber und Teilzeitwissenschaftler. Trotzdem muss die junge Familie von Oertzen ständig improvisieren. Die Bezüge als Landtagsabgeordneter sind denkbar gering und genügen kaum für die vierköpfige Familie. Gelegentliche Forschungsaufträge und Vortragshonorare bieten kein geregeltes Einkommen, oft sind sie auf Zuwendungen aus dem Hause Siebrecht angewiesen. Daher entschließt sich von Oertzen, zunächst seiner wissenschaftlichen Laufbahn Vorrang zu gewähren. Um diese nicht zu gefährden, scheidet er 1959 aus dem Landtag aus, da die damalige Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät ihn als Landtagsabgeordneten der SPD nicht habilitieren will. In den nächsten Jahren widmet er sich verstärkt dieser Arbeit, einer Studie über die Betriebsräte in der Revolution von 1918/19. Nach den langwierigen Schwierigkeiten bei dem Zuschnitt der Arbeit und der Auswahl der Gutachter wird er 1962 schließlich erfolgreich habilitiert.

In der Folge arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent bei Gerhard Leibholz am Institut für Allgemeine Staatsrechtslehre und Politische Wissenschaft. Er bewirbt sich jedoch auch bei zahlreichen pädagogischen Hochschulen auf Professuren im noch jungen Fach Politikwissenschaft. 1963 erfolgt dann der Ruf an die Pädagogische Hochschule Hannover. Zunächst pendelt er noch in die Landeshauptstadt und erfüllt auch weiterhin seine Lehraufträge in Göttingen. Nach einem Jahr zieht die Familie jedoch ganz nach Hannover, wo er auch den Rest seines Lebens wohnt und arbeitet. Die Verbindung nach Göttingen bleibt für ihn aber bestehen. 1967 tritt er hier wiederum als Direktkandidat an und zieht erneut in den Landtag ein. Auch in den folgenden Legislaturperioden bleibt er Göttinger Abgeordneter.

Philipp Kufferath promoviert über eine politische Biografie von Peter von Oertzen.