Die Rückkehr der Verdrängten?

[präsentiert]: Nils C. Kumkar liest Owen Jones: Chavs – The Demonization of the Working Class.

Dumm, faul, gewalttätig, abgehängt, ewiggestrig. Wie kommt es zu dieser doch beachtlichen Fallhöhe der einstmals stolzen Arbeiterklasse in den Augen der britischen Öffentlichkeit? Von dieser Ausgangsfrage aus untersucht Owen Jones die verschiedenen Aspekte der „Dämonisierung der Arbeiterklasse“.

Drei spontane Antworten hält der öffentliche Diskurs bereits parat: Zum einen existiere die Arbeiterklasse überhaupt nicht mehr, sondern habe zumindest in den Ökonomien Westeuropas entweder den Aufstieg in den Mittelstand vollzogen oder sei in eine Unterschicht abgesunken, die weder arbeite, noch als Klasse beschreibbar sei – insofern sei die Frage an sich sinnlos und der Fragesteller hoffnungslos altmodisch. Die zweite Antwort bezichtigt den Fragenden der Naivität. Gangs, Gewalt und Vorurteile gehörten nun mal zum Alltag in den Unterschichten – schon der Begriff der Dämonisierung scheint dann als typisch gutmenschliches Verschließen vor der Realität. Die dritte und vielleicht am weitesten verbreitete Antwort ist aber die Kombination der beiden zuvor genannten: Es gäbe durchaus eine exkludierte Unterschicht, in der Verwahrlosung und Elend regierten, diese allerdings habe mit der alten Arbeiterklasse nicht mehr das Geringste gemein. Der britisch-englische Name der Figuren, die als Schreckensbild und Karikatur dieser Unterschicht gleichermaßen fungieren, lautet: „Chavs“.

Dass sich diese Bezeichnung nur schwer ins Deutsche übertragen lässt („Prolls“, so der  Titel der angekündigten Übersetzung, scheint noch am ehesten zu treffen), sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Phänomen auch in Deutschland nur allzu gut bekannt ist. Darum lohnt es sich, bewaffnet mit ein wenig Willen zur Abstraktion, dem Autor auf seinen Streifzügen durch Diskurse und Lebensalltag rund um die britische Arbeiterklasse zu folgen.

Ähnlich wie beim ebenso jungen Friedrich Engels 167 Jahre zuvor [1] sind auch Jonesʼ Hauptquellen die amtliche Statistik, die Tagespresse, Gespräche mit Experten und eben  persönliche Beobachtungen vor Ort. Als historischen Ausgangspunkt wählt Jones, wenig überraschend, die Regierungszeit von Margaret Thatcher. Die Konservativen hätten zwar nie einen Hehl daraus gemacht, eine Partei der Ober- und Mittelschicht um Kampf gegen die politischen Forderungen der Arbeiterbewegung zu sein – mit dieser Begründung hätten sie schließlich jahrzehntelang das allgemeine Wahlrecht abgelehnt – aber erst unter Thatcher hätten sie die Entscheidungsschlacht gesucht. Die Dienstleistungsgesellschaft, welche die Nachfolge der Industriegesellschaft angetreten haben soll, bekommt in diesem Licht eine neue Färbung. Sie wird zur Losung eines polit-ökonomischen Programms, das Jones mit den Worten Pinochets (wie Thatcher ein begeisterter Schüler des Chicagoer Ökonomen Milton Friedman) zusammenfasst: eine Nation von Proletariern in eine Nation von Unternehmern zu verwandeln.

Im Hinblick auf die unmittelbaren Lebensumstände der Bevölkerung Großbritanniens scheint dieses Vorhaben gescheitert: schließlich wuchs seit Amtsantritt Thatchers die ökonomische Ungleichheit. Die Zahl derer, die Ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und nur über wenig Autonomie im Arbeitsprozess verfügen, die also im ganz klassischen Sinne Arbeiter sind, blieb dabei mindestens konstant. Auf der Ebene der hegemonialen Deutung gesellschaftlicher Vorgänge kann das Vorhaben auf der anderen Seite als durchaus erfolgreich gelten. Wie erfolgreich, das lässt Jones Thatcher selbst aussprechen, die, gefragt nach ihrem größten Erfolg, ohne zu zögern erwidert: „Blair und New Labour.“

Denn die Politik des Humankapitals und der Chancengleichheit, die für New Labour so prägend gewesen ist, folgt ebenso der Grammatik einer Gesellschaft der individualisierten Unternehmer ihrer selbst wie Thatchers „no such thing as society“ [2]. Und ob sie es beabsichtigt oder nicht, sie transportiert auch dieselbe normative Botschaft: Während ein armer Arbeiter schlecht bezahlt ist, ist ein armer Unternehmer unfähig. Das aber macht den positiven Selbstbezug unmöglich: Wenn die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse unsichtbar und damit die Armut zum individuellen Stigma geworden ist, dann ist die einzige Hoffnung der Aufstieg, das Sich-Absetzen von den anderen, den Hängengebliebenen, eben den „Chavs“, womit auch die Selbstwahrnehmung der Arbeiter als Klasse erheblich erschwert wird. Aus dieser Perspektive ist das „Verschwinden“ der Arbeiterklasse viel eher ein Effekt der ideologischen Auseinandersetzungen in der Klassengesellschaft denn Resultat ihrer veränderten soziostrukturellen Verfasstheit.

Weiter führen die Streifzüge des Autors ins aktuelle englische Parlament. Dort sitzen fast nur noch Absolventen von Elitehochschulen, einer der wenigen verbliebenen Abgeordneten aus einfacheren Verhältnissen wird verspottet, indem man ihm Getränkebestellungen zuruft, wenn er sich zum Reden erhebt. Von dort aus geht es weiter in die Redaktionsstuben der Tagespresse, aus denen unbezahlten Praktika als inzwischen gängige und stillschweigend akzeptierte Voraussetzung einer Anstellung Hungerleider zuverlässig fernhält. Überraschend offenherzig plaudern die Angehörigen dieser Institutionen aus dem Nähkästchen. Jones gibt prägnant, aber nicht verkürzend diesen Blickwinkel eines Bürgertums wieder, das vollständig den Kontakt zu denjenigen Bevölkerungsteilen verloren hat, die es nur noch aus Sitcoms, Talkshows und Reportagen kennt. Diese Distanz, die sich im Mantra der Meritokratie zu legitimieren sucht, sorgt sie dafür, dass die Unterschicht auf fast schon gespenstische Art fremd wirkt: In den Augen der Linksliberalen als bigott und unkultiviert, in den Augen der Konservativen einfach als „psychologisch dysfunktional“ (so Thatcher über den Grund für die Armut in Großbritannien).

Seine Streifzüge durch „Broken Britain“, die Wohnviertel dieser Abgehängten, hinterlassen natürlich einen anderen Eindruck der eben auch von Solidarität und Stolz, Resignation und Trotz geprägten Communities – obwohl der Autor hier oft ähnlich, wenn auch wohlwollender, zu fremdeln scheint. Ganz in seinem Element ist er hingegen im Quellenmaterial: Wenn er demonstriert, wie durch die Vertauschung von Medianeinkommen und Durchschnittseinkommen die „Mitte“ nach oben rutscht, oder wenn er zwischen der Repräsentation von Unterschichtenangehörigen bei „Big Brother“ und in den Artikeln in den renommiertesten Tageszeitungen hin- und herspringt. Überall legt Jones mit schlafwandlerischer Sicherheit ein ähnliches Muster frei: Einerseits die Leugnung von Ungleichheit und vor allem Armut, andererseits den Hang dazu, eben diese Armut als Resultat persönlichen Fehlverhaltens zu interpretieren.

Diese Sprache der Meritokratie mache es, so Jones, den Arbeitern unmöglich, ihre Klassenerfahrung zu artikulieren, ohne sich selbst abzuwerten. Wer unten ist, der taugt eben nichts – es sei denn, er kann eine Diskriminierung nachweisen. Da den meisten ein Aufstieg aber verstellt bleibe, zögen die Betroffenen sich zurück, wendeten ihre Wut gegen sich selbst oder versuchten ihre Forderungen entlang ethnisierender Argumentationslinien zu plausibilisieren – so sei der Aufstieg nationalistischer Parteien in Großbritannien nicht zuletzt aus dem Umstand zu erklären, dass zahlreiche Arbeiter versuchten, ihre Ungleichheitserfahrung als Diskriminierung von „Weißen“ zu deuten um das Stigma der Unfähigkeit von sich zu weisen. Spätestens das muss dann auch bei Linksliberalen dafür herhalten, die Arbeiter als Ewiggestrige abzuschreiben. Mit theoretischen Überlegungen zu den beobachteten Zusammenhängen hält Jones sich zurück, das Theoretisieren überlässt er fast vollständig seinen Interviewpartnern. Manchmal verlässt er sich vielleicht zu sehr auf die unmittelbare Evidenz der präsentierten Sachverhalte. Dennoch braucht es nicht viel Fantasie, um in dem Gesamtarrangement einen potentiellen Sprengsatz zu erkennen: Denn der sich selbst verstärkende Zirkel von Elend, Sprachlosigkeit und Spott scheint sich unter dem Druck der Austeritätspolitik der letzten Jahre weiter zu beschleunigen.

Obwohl das Buch vor den Unruhen entstand, die im Herbst 2011 von Tottenham aus Großbritannien erschütterten, haben diese doch ohne Frage zu seiner Popularität beigetragen. In der Tat können sie als Bestätigung von Jonesʼ impliziter These verstanden werden, dass es heute vielleicht weniger naiv ist, noch von der Arbeiterklasse zu sprechen, sondern dass es vielmehr fatal wäre, ihre Existenz weiter in Abrede zu stellen. Wenn Hans-Olaf Henkel nun seinen Kommentar zum Wirtschaftsgipfel von Davos mit „Feigheit vor dem Klassenfeind“ [3] überschreibt, dann mag neben dem aufmerksamkeitsheischenden Rückgriff auf das gute alte Standgerichtspreußisch auch die Ahnung eine Rolle gespielt haben, dass auch marktliberale Politik die Erkenntnis einer gespaltenen Gesellschaft nicht länger ignorieren kann. Die Gesellschaft der Unternehmer mag dieses Trauma verdrängen, aber eine demokratische Gesellschaft muss es (wieder) besprechbar machen – soll das Trauma nicht mit aller Gewalt wiederkehren. Als Plädoyer dafür ist Jonesʼ Buch Pflichtlektüre für diejenigen, die meinen, dass soziale Ungleichheit politisch und sozial keine Rolle mehr spiele. Für all diejenigen, die sich mit aktuellen Konzeptionen von Klasse und Klassenkonflikt befassen, bietet das Buch theoretisch zwar wenig, dafür empirisch umso mehr Neues. Vor allem ist es aber eine angenehme und abwechslungsreiche Lektüre, auch weil der Autor seinem anfangs formulierten aufklärerisch-demokratischen Impetus bis zum Ende treu bleibt und bei allem Furor nur selten in einfache Schuldzuweisungen zurückfällt:

„The aim of this book is to expose the demonization of working-class people; but it does not set out to demonize the middle class. We are all prisoners of our class, but that does not mean we have to be prisoners of our class prejudices.“ (S. 11)

Nils C. Kumkar ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Rezension zu:

Jones, Owen: Chavs – The Demonization of the Working Class, 2011; Verso, London/New York.

Die deutsche Übersetzung erscheint im Mai 2012 im Verlag André Thiele


[1] Engels, Friedrich: „Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen.“[1844] In: MEW Bd. 2, 1962; Berlin, Dietz, S. 229-506.

[2] Thatcher, Margaret: Interview for Womanʼs Own, 1987;   http://www.margaretthatcher.org/document/106689 (08.02.2012)

[3] Henkel, Hans-Olaf: „Feigheit vor dem Klassenfeind“, http://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/kurz-und-schmerzhaft/henkel-trocken-feigheit-vor-dem-klassenfeind/6164514.html (06.02.2012)