Politische Kritik für Fortgeschrittene

[nachgefragt]: Klaudia Hanisch über die polnische Formation Krytyka Polityczna.

Klaudia, Du hast das linke polnische Netzwerk Krytyka Polityczna (Politische Kritik) untersucht. Wie bist du darauf gekommen?

Mein Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass trotz einer enormen sozialen Ausdifferenzierung im ostmitteleuropäischen Raum eine Linke erstaunlich unterentwickelt geblieben ist. In Polen und Ungarn spielen diese Rolle postkommunistische Parteien, die – einmal an der Macht angelangt – eine Agenda verfolgten, die man eher als neoliberal bezeichnen könnte. In Tschechien wiederum haben die Kommunisten und die Sozialdemokraten den Ruf konservierender Klientel-Parteien der Beamten oder Rentner. Man muss zwar bemerken, dass auch in diesen Ländern viele kleine außerparlamentarische Gruppen entstehen, doch entfalten diese in der Regel keine Systemrelevanz. Krytyka Polityczna ist hier ein Sonderfall. Innerhalb von zehn Jahren wurde sie zu einem bedeutenden politischen Akteur in Polen.

Was ist Krytyka Polityczna überhaupt?

Krytyka Polityczna ist heute die einflussreichste intellektuelle Formation der polnischen Linken. Allein in Warschau umfasst sie neben einer Zeitschrift und einem beliebten Internetportal, das vor einigen Wochen zur Internetzeitung umgestaltet wurde, einen Verlag, ein Forschungsinstitut und ein Kulturzentrum. Sie baute Strukturen in über zwanzig polnischen Städten wie auch einige Klubs im Ausland auf. Ihre Organisationsform ist zwar aufgrund ihrer Hybridität nur schwer zu greifen, doch dank ihres Zentrums in Warschau kann sie beträchtliche Erfolge im Gewinn von Drittmitteln vorweisen und sich somit ständig weiterentwickeln. Ihr Chef Sławomir Sierakowski, der eine Zeit lang auch ein Hoffungsträger für die Erneuerung einer parlamentarischen Linken war, ist stolz darauf, dass Krytyka Polityczna zwar formell als eine NGO, aber gleichzeitig als lebendige Szene funktioniert.

Was war deine Fragestellung?

Ich wollte herausfinden, was Krytyka Polityczna auszeichnet und vor allem: Welches Narrativ steckt hinter ihrer Agenda? Unter einem Narrativ verstehe ich dabei  erst einmal eine sprachlich-kulturelle Weise der Organisation und Präsentation von Wirklichkeit, deren wichtigstes Merkmal der Plot ist. Doch gleichzeitig bedeutet eine neue narrative Konstruktion zu etablieren immer auch, die Realität neu zu vermessen. Somit handelt es sich um einen politischen Akt.

In deiner Analyse benutzt Du auch den Begriff des Mythos. Was ist damit gemeint?

Bei der Definition des Mythos habe ich mich an dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler orientiert. Dieser verwirft zum Teil die gängige pejorative Begriffsbestimmung des Mythos als emotional aufgeladene Narration, die historische Wirklichkeit nicht den Tatsachen gemäß, sondern auf selektive und stereotypische Weise interpretiert. Stattdessen richtet Münkler seinen Blick auf die funktionale Ebene. Für ihn sind die in politischen Mythen überlieferten Anfänge mehr als bloße Anfänge in der Zeit. Sie entfalten Sinnversprechen, durch welche die Vergangenheit mit der Gegenwart verbunden wird, und zwar so, dass die Vergangenheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft weist.

Nicht zu vernachlässigen ist natürlich das destruktive Potential von politischen Mythen, was der wachsende Nationalismus nur allzu deutlich veranschaulicht. Mythen können aber auch für Akteure, die eine emanzipatorische Agenda verfolgen, von Interesse sein. Sie können dabei helfen, kulturellen Wandel und soziale Veränderungen herbeizuführen, indem sie das Selbstbewusstsein der Gegenseite in Frage stellen: „Nicht durch die revolutionäre Tat verschafft dieser sich Freiheit, sondern indem er eine ihm gleichgültige gegenüberstehende Welt narrativ überwältigt“[1], so Münkler.

Was hast Du herausgefunden?

Mir ist aufgefallen, dass sich Krytyka Polityczna in die Kontinuitätslinie der Tradition der polnischen Intelligenz einreiht und auf diese Weise ein Identitätsangebot für eine junge Linke fernab vom Erbe des Realsozialismus und der kommunistischen Einheitspartei formuliert. Sie rekurriert auf einen politischen Mythos, den polnische Schüler seit Generationen im Polnisch- und Geschichtsunterricht eingetrichtert bekommen und der dementsprechend tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelt ist.

Wie genau konnte Krytyka Polityczna Nutzen aus dem beschrieben Mythos ziehen?

Wie bereits erwähnt, war für mich die Herausbildung eines Selbstbewusstseins als Erben der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Intelligenz das Interessanteste an ihrer Erfolgsgeschichte. Indem sie einen populären Mythos beschwor, brachte sie einen Widerstreit zum Ausdruck und brach symbolisch mit dem Projekt der Dritten Polnischen Republik. Bei ihrer Kritik an politischen und sozialen Verhältnissen sollte kein Zukunftsentwurf, wie einst bei den klassischen großen Narrativen, sondern ein historisches Vorbild Orientierung stiften. Aus diesem folgt etwa, dass das Privileg eines erworbenen kulturellen Kapitals vornehmlich keine Quelle der Distinktion sei, sondern zur Solidarität mit den Ausgeschlossenen und einer gemeinsamen emanzipatorischen Bestrebung verpflichte.

Das Beispiel zeigt also, dass ein politischer Mythos handlungsweisend wirken kann. Er produziert kollektive Selbstbilder und nicht zuletzt funktioniert er als eine Wahrnehmungsfolie, die aufgespannt wird, um die Außenperzeption auf das eigene Agieren zu beeinflussen und politische Legitimation zu erlangen. Mythen haben somit eine politikvermittelnde Qualität, indem sie gewisse Entscheidungen in eine Großerzählung einzureihen vermögen und diese als eine längst fällige und höhere Notwendigkeit darstellen.

Du sprichst von der osteuropäischen Intelligenz als einem Mythos. Was für eine Rolle hat sie in der polnischen Geschichte gespielt?

Als Intelligenz bezeichnet man eine historisch gewachsene soziale Formation in Ostmittel- und Osteuropa, die vor allem anhand von zwei Kriterien festzumachen war: der Verfolgung einer intellektuellen Tätigkeit sowie des Teilens eines bestimmten Wertesystems. Die Herausbildung einer eigentümlichen Schicht von Intellektuellen scheint dabei eine Eigenart autoritär regierter abhängiger Gesellschaften gewesen zu sein – eine Fremdherrschaft, kontroverses Besitz- und hohes Bildungsprestige waren jedenfalls die besten Voraussetzungen für die Entstehung der Intelligenz im 19. Jahrhundert.

In Polen stand sie wie in keinem anderen Land für die Kontinuität der nationalen Geschichte. In Anbetracht des langsamen Niedergangs des Adels und eines fehlenden aufbegehrenden Bürgertums bestand die traditionelle Rolle der Intelligenz darin, die ideologische und organisatorische Führung der polnischen Nation im Kampf gegen die Besatzungsmächte zu übernehmen. Darüber hinaus machte sie sich die Aufgaben der Volksbildung, die in westlichen Gesellschaften schon in den Aufgabenbereich des Staates fielen, zu eigen. Die Logik war einfach: Wenn es keinen polnischen Staat gibt, müsse man sich den Aufgaben selbstorganisiert in einem kleineren Rahmen annehmen.

Wie steht es denn um diese heutzutage?

Die Dritte Polnische Republik, die im Jahr 1989 entstanden ist, wurde noch als Triumph der Intelligenz im Bündnis mit den Arbeitern gefeiert. Mitunter hatte die nationale Eschatologie der Intelligenz in Polen im Vergleich zu anderen Ländern die Herausbildung einer numerisch größeren und gesellschaftlich gewichtigeren antikommunistischen Opposition begünstigt. Doch seit den 1990er Jahren spricht man vom Tod der Intelligenz. Das einstige Ideal wurde zum Anachronismus. Außer einigen wenigen Stimmen, vor allem von Seiten katholischer Intelektueller, schien sich keiner daran sonderlich gestört zu haben. Stattdessen wurde eine sich dynamisch einwickelnde ökonomisch denkende Mittelschicht zum ultimativen Leitbild erklärt. Und genau an dieser Stelle setzte Krytyka Polityczna mit ihrem Versuch der Renaissance der engagierten Intelligenz an.

Klaudia Hanisch ist Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zum Thema Krytyka Polityczna veröffentlichte sie jüngst „Links in Polen. Krytyka Polityczna und die Tradition der osteuropäischen Intelligenz“ im ibidem-Verlag.


[1] Münkler, Die Deutschen, S. 25.