Mann der Partei, nicht der politischen Macht

Beitrag verfasst von: Franz Walter

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[analysiert]: Franz Walter über den Sozialdemokraten Otto Wels

Herten_Otto_Wels_02xVor 75 Jahren starb Otto Wels, der Parteiführer der deutschen Sozialdemokratie in den Zeiten der Weimarer Republik. Schon als Kind war Otto Wels, geboren als Sohn eines Gastwirts am 15. September 1873 in Berlin, in das sozialdemokratische Milieu hineingewachsen. In der Kneipe seiner Eltern trafen sich regelmäßig Sozialdemokraten. Wels erlernte das Tapezierhandwerk, ging auf Wanderschaft, wurde in seinem Verband Gewerkschaftsfunktionär, erhielt dann einen Posten als Parteisekretär in der Provinz Brandenburg. Der Vorstoß an die Spitze der MSPD gelang ihm nach dem Ersten Weltkrieg, als er den zum Reichspräsidenten aufgestiegenen Friedrich Ebert als Parteivorsitzenden ablöste.

Otto Wels war zweifellos ein tüchtiger Funktionär, bodenständig, fleißig und gerissen. Aber als Politiker mangelte es ihm an Weitblick und Ausstrahlung. Wels war ganz und gar ein Mann der Partei, eingebunden in ihrem Organisationskosmos. Er beherrschte die Partei, weil er die Techniken und Instrumente der Organisation beherrschte. Und er trat autoritär auf, war cholerisch, sprang grob mit seinen innerparteilichen Gegnern um. In der Weimarer Zeit nannte man ihn „Diktator Wels“. Doch erzielte er nur in der eigenen Partei diese Wirkung, nach außen machte er wenig Eindruck. Auch seine Rhetorik griff nur im Inneren; seine Reden waren voller derber Formulierungen und er sprach bellend, variationslos, unmelodiös. Wels „fühlte sich nur stark, wo er sich zu Hause fühlte, in der Partei, im Kreise der Arbeiter, von denen er einer war“, erinnerte sich später der Chefredakteur des Vorwärts, Friedrich Stampfer. Der Partei ordnete Wels auch die Reichstagsfraktion unter, die den Vorgaben des Vorstandes strikt zu folgen hatte.

Von Wirtschaftspolitik verstand Wels so wenig wie die meisten Sozialdemokraten. Da vertraute er, so wie sich August Bebel auf Karl Kautsky verlassen hatte, ganz seinem Theoretiker, Rudolf Hilferding. Für Hilferding waren ökonomische Krisen eherner Bestandteil des kapitalistischen Systems, denen man, solange die bürgerlichen Verhältnisse nicht überwunden waren, nicht wirksam entgegensteuern könne. Als sich demgegenüber jüngere Gewerkschafter zu Beginn der 1930er Jahre für eine aktive Konjunkturpolitik des Staates und kreditfinanzierte öffentliche Investitionen aussprachen, wischte der sozialdemokratische Cheftheoretiker Hilferding diese Pläne höhnisch vom Tisch, und der Parteivorsitzende Wels gab ihm die nötige Rückendeckung. So konnte sich die NSDAP 1932 als Arbeitsbeschaffungspartei, welche die SPD nicht sein wollte, präsentieren, dann massive Stimmengewinne verbuchen und plebiszitär begründete Ansprüche auf die Macht stellen.

So scheiterte die Sozialdemokratie, so ging die Weimarer Republik zugrunde. Natürlich: Die Sozialdemokraten gehörten nicht zu jenen Kräften, die die Nationalsozialisten zielstrebig an die Macht hievten. Und nach dem 30. Januar 1933, als Hitler die Macht übertragen wurde, weigerten sie sich, dem neuen Reichskanzler scheinlegale Mittel für die Installierung seiner braunen Diktatur zu beschaffen. Stolz sind sie bis auf den heutigen Tag und mit Recht auf ihr Verhalten am 23. März 1933. An diesem Tag ließ sich Hitler von den Abgeordneten des Reichstags dazu ermächtigen, Gesetze wider die Verfassung und ohne Zustimmung der Legislative erlassen zu können. Damit entzog sich der Reichstag die eigene Existenzgrundlage. Und alle, ausnahmslos alle bürgerlichen Abgeordneten votierten für die Ermächtigung Hitlers. Allein die Sozialdemokraten stimmten dagegen, und das geschlossen. Für das Selbstverständnis und die Geschichtsdeutung der Sozialdemokraten ist das elementar: Man hat sie unter dem Sozialistengesetz verfolgt, dann wieder und noch schlimmer unter Hitler. Aber sie widerstanden, während das deutsche Bürgertum sich in beiden Fällen opportunistisch auf die Seite der Unterdrücker schlug.

Unglück und Stolz – das gehört für die deutschen Sozialdemokraten historisch eng zusammen. Der 23. März war ein zutiefst unglücklicher, trauriger, bedrückender Tag; und doch gibt es wohl keinen zweiten in der Geschichte, auf den sie so stolz, fast triumphierend zurückblicken können. Schließlich hatten sie allem Druck und Terror getrotzt, sich nicht davon entmutigen lassen, dass einige ihrer Abgeordneten in den Wochen vor dem 23. März inhaftiert und in Konzentrationslager gesteckt worden waren, wenngleich Wels über die konfiszierten Mandate der Kommunisten kein Wort verlor. In der Reichstagssitzung ließ sich Wels trotz des Gejohles und der hämischen Zwischenrufe der zahlreichen Braunhemden nicht beirren, als er um 18.16 Uhr kreidebleich am Rednerpult das Votum seiner Fraktion gegen das Ermächtigungsgesetz begründete: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. (…) Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“ Es war die letzte erhabene Geste einer im Übrigen unglücklichen Partei. Niemand hat das schärfer beobachtet als der Berichterstatter der liberalen Frankfurter Zeitung, der über die Rede von Otto Wels schrieb: „Seine verschleierte Stimme klang tiefernst. Verhaltenes Pathos, moralische Rechtfertigung, moralischer Appell. Eine Rede in der denkbar schwierigsten Situation – anständig, mutig, zuweilen sogar in gedämpfter Form aggressiv. Man findet den ganzen Jammer heraus, der heute diese wohlmeinende, aber nicht vom Glück verfolgte Partei befallen hat.“

Diese Beobachtung traf es. Im 23. März bündelten sich Stolz und Ohnmacht der Partei, Tapferkeit und Furcht, Größe und Untergang. Die Sozialdemokraten der „Generation Wels“ hatten nichts von der Amoralität, der entfesselten Niedertracht, der bestialischen Brutalität der Nazis und großer Teile der politischen Rechten in Deutschland – aber sie hatten ihr auch nichts entgegenzusetzen, außer das Pathos der Rede und die Treue ihrer Mitglieder. In den historischen Momenten, als Strukturen brachen, Emotionen wirbelten, als Macht und Gewalt sich eng und explosiv miteinander verknüpften, reichte die sozialdemokratische Gutwilligkeit nicht aus. Am 23. März 1933 zeigte sich die SPD im Ganzen noch einmal als anständige politische Kraft. Gerade deshalb bereitete es den Nationalsozialisten keine Mühe, die Sozialdemokraten der Generation Wels hinwegzufegen, ihre Existenz zu zerstören, ihre Funktionäre zu verfolgen, einzuschüchtern, zu foltern, viele zu töten.

Die Generation Wels war politisch erwachsen geworden, als die Wirtschaft boomte, Monarchie und Kaiserthron schwer fortzudenken waren, die Sozialdemokraten zugleich ebenso wuchsen und gediehen. An Kriegen musste niemand von ihnen als Soldat teilnehmen. In den 44 Jahren Friedenszeit zwischen 1870 und 1914 betrieben sie mit stetem Erfolg ihre kontinuierliche Organisationspraxis. Die Gegenwart war nicht so unerträglich wie noch in den Zeiten des Frühkapitalismus. Der Klassenkonflikt drängte jetzt nicht (mehr) zur revolutionären Aktion, zu militanten Angriffen auf die Zitadellen von Kapital und Staat. Ein hauptamtlicher Posten bei den Gewerkschaften oder Ortskrankenkassen markierte eher Terrain und Ziel dieser Generation als die Barrikade oder der subversiver Untergrund. Sozialdemokraten organisierten und hielten Ansprachen, bereiteten sich akribisch auf Reichstagswahlen vor und stellten im Laufe der Jahre eine wachsende Zahl von Parlamentariern. Das alles perfektionierten sie mit der Zeit.

Aber der Macht blieben sie weit entrückt, ohne dass sie darunter qualvoll litten. Es trieb Wels nicht ins Zentrum politischer Entscheidungen. Wels blieb Zeit seines Lebens der Mann der Partei. Selbst wenn Sozialdemokraten nun, nach Konstituierung der Republik, an der Reichsregierung beteiligt waren, gar den Kanzler stellten, ließ er keinen Zweifel aufkommen, dass der Primat bei der Parteiorganisation lag, nicht bei einem sozialdemokratisch geführten Kabinett. Über Wels verlängerte sich die binnenzentrierte Oppositionsmentalität der Kaiserreichsozialdemokraten hinein in die Weimarer SPD, hinterließ beträchtliche Spuren bekanntlich noch in der bundesdeutschen Partei nach 1945. Erst kam die Lindenstraße, der Sitz des Parteivorstandes, dann die Wilhelmstraße, das Regierungszentrum; die Priorität lag bei Otto Wels, dann erst folgten Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller. So lautete das sozialdemokratische Ranking der Weimarer Jahre. Otto Wels hatte in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal ein öffentliches Amt übernommen, für gerade sechs Wochen im November/Dezember 1918 – und scheiterte schon damals ziemlich schmählich.

Am 16. September 1939 starb Otto Wels im französischen Exil.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

Foto oben: Gerardus