[analysiert]: Verena Hambauer über das Demokratieverständnis in Ost und West.
Am 3. Oktober jährte sich zum 23. Mal der Tag der Deutschen Einheit. Doch wie einig sind sich die Bürger in Ost und West? Gibt es Unterschiede in Hinblick auf das Demokratieverständnis oder auf die Politikwahrnehmung im Allgemeinen?
Eben diese Fragen hatte sich auch die bundesweite qualitative Studie des Instituts für Demokratieforschung zum Engagement von Bürgerinnen und Bürgern bei Protesten gestellt.[1] Sie beschäftigte sich mit sieben verschiedenen Protestgruppen. Mit zwei von ihnen – es handelte sich um Projekte im Zuge der Energiewende sowie zu Occupy/Systemkritik/Ironische Proteste – wurden sowohl Interviews in Ost- als auch in Westdeutschland geführt. Diese Interviews wurden auf Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten zwischen ost- und westdeutschen Befragten hin analysiert.
Während allen Befragten der Gruppe „Projekte im Zuge der Energiewende“[2] gemein ist, dass sie mehrheitlich von Politikern und ihren Parteien enttäuscht sind, sind dennoch einige, sowohl im Westen als auch im Osten, Parteimitglieder[3], stehen auf der „Grünen Liste“ oder sind „nur freies Mitglied in der SPD-Fraktion“.[4]
In den Interviews wurde allerdings deutlich, dass die Parteienskepsis der Ostdeutschen, auch wegen der Erfahrungen mit der SED in der DDR, höher ist als die der Westdeutschen. Einem aus der DDR stammende Gesprächspartner wäre es „nie in Frage gekommen, irgendwie da aktiv zu werden.“ Die befragten Ostdeutschen waren darüber hinaus durchweg keine Sympathisanten des DDR-Regimes. Einige der Befragten haben sogar ihren SED-Austritt extra im Fragebogen aufgeführt.
Sowohl westdeutsche als auch ostdeutsche Nicht-Parteimitglieder sympathisieren mit den Grünen und der SPD, letztere auch mit der LINKEN. In Anbetracht der deutschen Parteienlandschaft sind die ostdeutschen Befragten jedoch größtenteils desillusioniert und halten sich mehrheitlich von dieser fern. „Es gibt eine Parteidisziplin, das ist genauso für mich ein Begriff, den es früher gab, den es heute gibt, der mir manchmal die Haare zu Berge stehen lässt“. Diese Skepsis gegenüber den Parteien führt sogar so weit, dass mancher ostdeutsche Protestler für die Abschaffung des Parteiensystems plädiert.
Parteienskeptisch sind alle Befragten, im Osten wird diese Skepsis jedoch in den Interviews öfter und vehementer betont.
Unsere Gespräche ergaben: Die ostdeutschen Befragten, die im Bereich Energiewende aktiv sind, fühlen sich „um die Demokratie betrogen“. Nach der Wende trugen sie sich mit viel höheren Erwartungen an die Demokratie der BRD, wurden entsprechend „bitter enttäuscht“ und zeigten sich irgendwann auch frustriert.
Diese Enttäuschung lässt sich mit folgendem Zitat zusammenfassen: „Ja, man darf seine Meinung frei äußern, aber mitbestimmen oder mitregieren darf man nicht.“
So scheinen sie desillusioniert und stellen fest: „Das Schlimme ist nur, wir sind von der einen Demokratie in die andere Demokratie.“ Dahingegen wird die Demokratie, wie sie in Deutschland Realität ist, von den westdeutschen Befragten nicht in Frage gestellt, im Gegenteil, sogar sehr geschätzt. Dieses ungleiche Demokratieverständnis ist wohl einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen Ost und West.
Wie im Westen besteht auch im Osten der Wunsch, dass die Politik unabhängig von den Lobbyisten agieren sollte. Die Befragten beider Protestgruppen stellen fest, dass die Politiker, die auch schon mal als „Verbrecher“ bezeichnet werden, „an der Leine der Lobbyisten hängen und zwar so stark, nicht nur finanziell, alle korrupt“. Diese Politik habe darüber hinaus „so weit an Bodenhaftung verloren, die pflegen nur noch den Kontakt mit den Lobbyisten“. So haben sowohl westdeutsche als auch ostdeutsche Befragte ihr „Hauptproblem mit dem Lobbyismus, der hier einfach herrscht in diesem Land“. Dieser Blick auf den Lobbyismus eint die ost- und westdeutschen Befragten. Sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern wird die Unabhängigkeit der Politiker von den Lobbyisten gefordert.
Innerhalb der Protestgruppe „Occupy/Systemkritik/Ironische Proteste“ lassen sich keine Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten in Hinblick auf Demokratie- und Politikverständnis beobachten. Parteien gegenüber sind alle Befragten dieser Gruppe skeptisch eingestellt. Dennoch sind sie keineswegs grundsätzlich abgeneigt und halten „per se Parteien für eine gute Sache“, selber möchte man aber eher kein Mitglied werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Befragten größtenteils mit der repräsentativen Demokratie zufrieden sind. Darüber hinaus wird die Meinungsfreiheit in Deutschland sehr geschätzt, die ja – den Befragten zufolge – ein eindeutiger Bestandteil einer Demokratie sein sollte. Die Befragten befürworten insgesamt eine gerechtere Gesellschaft, diese sollte unter anderem durch das bedingungslose Grundeinkommen erreicht werden – ein Begriff, der öfter fällt.
Außerdem sind sich alle einig, dass mehr direkte Demokratie, jedoch auf kleinerer Ebene, erstrebenswert sei.
Die Befragten der Gesellschaftsstudie verbindet ihr Engagement. Sie verurteilen gemeinsam jene Politiker, die nichts gegen die Übermacht der Lobbyisten unternehmen und nicht die „richtigen“ Gesetze auf den Weg bringen würden. Sie beklagen einstimmig, dass sie weder „mitbestimmen“ noch „mitregieren“ dürfen. Dennoch: Unterschiede, wie auch in zahlreichen Forschungsarbeiten[5] festgestellt, lassen sich zwischen ost- und westdeutschen Befragten nach wie vor finden.
So unterscheiden sie sich vor allem in Hinblick auf ihre Einstellung gegenüber Parteien und gegenüber der Demokratie. Die ostdeutschen Befragten der Gruppe „Projekte im Zuge der Energiewende“ sind Parteien gegenüber durchweg skeptischer und von der Demokratie in Deutschland enttäuschter.
Die in diesem Zusammenhang Befragten der „Occupy/Systemkritik/Ironische Proteste“– Gruppe sind mit zwanzig bis dreißig Jahren im Vergleich zur Gruppe „Projekte im Zuge der Energiewende“ (55+) sehr jung. So wurden die im Osten Befragten der Occupy-Gruppe nicht in der DDR sozialisiert – was ein Grund für die fehlenden Unterschiede innerhalb dieser Gruppe sein kann.
Anhand der beiden Protestgruppen lässt sich folglich annehmen, dass mit zunehmendem Alter und damit mit einhergehender DDR-Sozialisation die Unzufriedenheit mit der Demokratie steigt.
Offensichtlich ist: Den Befragten der Gesellschaftsstudie in Ost und West reicht die repräsentative Demokratie offenbar nicht aus. Sie wünschen sich mehr Volksbefragungen, gerade auch auf kommunaler Ebene, und wollen unmittelbarer mitwirken. Sie räumen aber auch ein, dass sie „auf hohem Niveau jammern“. Denn dass sie sich in ihren Initiativen und Vereinen engagieren und ihre Meinung jederzeit frei äußern können, ist auch ein Privileg unserer Demokratie, das sie anerkennen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es immer noch Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Befragten in Hinblick auf Demokratiezufriedenheit und die Einstellungen zu Parteien gibt. Die Gemeinsamkeiten in bestimmten Subgruppen, wie z.B. Bürgerinitiativen, überwiegen aber die Unterschiede.
Aber auch Unterschiede zwischen den Generationen lassen sich feststellen:
So ist ein frappierender Unterschied zwischen den beiden Protestgruppen, dass die im Bereich “Energiewende“ Aktiven zwar grundsätzlich sehr skeptisch gegenüber Politik und Demokratie eingestellt sind, aber dennoch eher zu einer klassischen Parteimitgliedschaft neigen – im Gegensatz zu den Aktivisten der Gruppe „Occupy/Systemkritik/Ironische Proteste“.
Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die jüngere Generation – fern von den Parteien – z.B. über ihr Konsumverhalten politisch aktiv ist. Ein Trend, auf den in letzter Zeit schon öfter hingewiesen worden ist.[6]
Verena Hambauer arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Walter, Franz u.a.: Die neue Macht der Bürger – Was motiviert die Protestbewegungen?, Hamburg, Reinbek 2013.
[2] Die Aktivisten dieser Gruppe sind überwiegend männlich, überdurchschnittlich gut gebildet, verfügen tendenziell über einen naturwissenschaftlichen bzw. technischen beruflichen Hintergrund und sind größtenteils über 50 Jahre alt.
[3]Im Westen: Grüne und SPD; im Osten: Grüne, SPD und die LINKE.
[4] 19% Parteimitglieder im Westen, 16% im Osten.
[5] Siehe Krause, Peter / Ostner, Ilona: Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990 – 2010, Frankfurt/New York 2010.
[6] Siehe Uchatius, Wolfgang: Soll ich wählen oder shoppen?, in: Die Zeit, 19.09.2013.