[debattiert]: Christopher Schmitz über Potenziale und Probleme internetgestützter Demokratiereformen
Ungeachtet der in diesem Blog geäußerten Zweifel, ob Konzepte wie Demokratie 4.0 verfassungsmäßig sind oder nicht, stellt sich bei diesem und anderem Erneuerungsprogramm der Demokratie mit Hilfe des Internets letztlich – oder vielleicht besser: zuerst – die Frage nach theoretischen und normativen Grundlagen derartiger Gedankenspiele. Angenommen also, die technischen Probleme solcher Vorhaben ließen sich zur Zufriedenheit der Verfassungshüter lösen: Wäre die Einführung solcher Verfahrensweisen tatsächlich der Revitalisierung des demokratischen Projektes förderlich?
„Wenn es in einem Land Parteien gibt, entsteht früher oder später eine Sachlage, in der es unmöglich ist, wirksam auf die öffentlichen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen, ohne in eine Partei einzutreten und das Spiel mitzuspielen.“[1]
Diese Worte scheinen einen Nerv der Zeit zu treffen und die gegenwärtige Kritik an der repräsentativen Demokratie perfekt einzufangen. Stein des Anstoßes ist häufig die Professionalisierung und die geringe Responsivität der Politik. Wahlen nur alle vier Jahre werden als zu starr, sperrig und unflexibel empfunden. Die Politik zwinge die Menschen immer noch, ihr Leben der Sache nach auszurichten. Es gelte, einen größeren individuellen Handlungsspielraum einzufordern, der es ermöglicht, Politik nicht als parteipolitisches Komplettangebot zu begreifen, sondern als frei wähl- und kombinierbare Modulpakete.[2]
Doch stammen diese Worte nicht von einer Person, die die Demokratie mit Hilfe des Internets erneuen will. Sie wurden geschrieben, als das Internet noch nicht einmal existierte und entspringen der Feder Simone Weils, die bereits 1943 die Abschaffung der politischen Parteien forderte. Als sie diese scharfe Kritik kurz vor ihrem Tod in London formulierte, geschah dies natürlich auch unter dem Eindruck, den Parteien wie die NSDAP in Deutschland oder die KPdSU in der Sowjetunion hinterließen. Sie unterstellte Parteien, Maschinen – „in Keim und Streben totalitär“ – zur Produktion kollektiver Leidenschaften zu sein, die so konstruiert wären, dass sie nicht nur kollektiven Druck auf das individuelle Denken ausübten, sondern gleichzeitig auch noch bestrebt wären, im Grunde grenzenlos zu wachsen.[3]
Dennoch: Weil war zeitlebens nicht in Großorganisationen engagiert,[4] weil sie der „künstlichen Kristallisierung in Parteien“ nichts abgewinnen konnte, die den „tatsächlichen Geistesverwandschaften“ einfach nicht entsprochen hätten. Mit anderen Worten: Sie kritisierte die Etikettierung von Politikern, die den Wählerinnen und Wähler nichts über deren persönliche Auffassung oder Meinung zu bestimmten Problemen verrieten, sondern lediglich über die Parteimeinung.[5]
Strukturell ähnlich gelagert, wenn auch weit weniger umfassend, sind heute auch Kritiken an Prinzipien wie dem Fraktionszwang, der es verhindere, dass kluge, einvernehmliche und richtige Lösungen für Probleme gefunden würden. Dem wird emphatisch ein System der internetbasierten Entscheidungsfindung gegenübergestellt, das diese Probleme umgehen möchte. Gerne wird hierfür der Begriff der Schwarmintelligenz verwendet, der ausdrücken soll, dass die Masse (also die Bürgerinnen und Bürger) bessere und zutreffendere Entscheidungen für ein Problem finden könne als eine Gruppe von Experten und Einzelpersonen (also Parteigremien oder Fachausschüsse).
Vereinfacht gesprochen vollzieht sich hier eine Scheidelinie zwischen der kooperativen Problemlösungssuche einerseits und der simplen Bündelung von Einzelinteressen andererseits.[6] In letzter Konsequenz vollzieht sich dadurch im theoretischen Denken, wie Politik gemacht werden und Demokratie funktionieren sollte, ein Wandel von einem diskursiv hergestellten Ausgleich der Gruppeninteressen hin zu einer reinen Aggregation individueller Einzelmeinungen.
Es wird gewissermaßen jener Individualisierungstrend mitvollzogen, der die westliche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten so nachhaltig geprägt hat: Milieus und traditionelle Orientierungsmuster sind erodiert und ausgetrocknet, Massenmedien büßen sukzessive ihren leitmedialen Charakter ein und die Individuen sehen sich immer stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Die Zeit der großen Kollektive scheint abgelaufen, die Legitimationsbasis der Politik ist im Schwinden begriffen. Den durch diese Transformation verursachten Problemen versuchen Konzepte digitaler Demokratie beizukommen, indem sie die Partizipationsmöglichkeit des Einzelnen einfordern und zu stärken versuchen. Es kommt zu einer Umdeutung der politischen Öffentlichkeit.
Für Jürgen Habermas entfalten klassisch-asymmetrische Öffentlichkeiten bei aller Unübersichtlichkeit (und Kritikwürdigkeit) immer noch eine „zentripetale Kraft“, mit deren Hilfe aus Strömen von politischen Botschaften schließlich eine öffentliche Meinung kondensiert würde.[7] Dem World Wide Web bescheinigt er zwar die Revitalisierung der „historisch versunkene[n] Gestalt eines egalitären Publikums“ und zugleich das Potenzial, „die Schwächen des anonymen und asymmetrischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen“.[8] Doch führe das Netz zu einer tendenziellen Aufweichung der politischen Öffentlichkeit und des Massenpublikums: Letzteres „zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen. Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es der zentrifugalen Tendenz nichts entgegen setzen.“[9]
Mandelbrot’sches Apfelmännchen (Quelle: Wikipedia*)
Aus dieser Perspektive betrachtet liefert das Erneuerungsversprechen, das das Internet gegenüber der Demokratie formuliert, also weniger eine Verflüssigung und Revitalisierung kritikwürdiger Strukturen als vielmehr eine Zersplitterung, Dezentralisierung und Fraktalisierung der politischen Diskursräume. Gleich dem Mandelbrot’schen Apfelmännchen[10] verlieren sich politische Diskussionen im Internet in sich selbst verstärkenden Individualisierungsschüben, denen es an der Fähigkeit zu einer ausreichenden Kondensierung und Rückkopplung zurück in die Öffentlichkeit fehlt.
An dieser Stelle wird schließlich ein Paradox sichtbar: Ein System, das durch Individualisierungstendenzen und Auflösung kollektiver Strukturen in eine legitimatorische Schieflage geraten ist, soll durch die fokussierte Öffnung für erweiterte individualisierte Zugangspunkte stabilisiert werden. Mit anderen Worten: Verfechter einer digitalen Demokratie versuchen sich an der Quadratur des Kreises. Solange Konzepte wie Liquid Feedback die repräsentative Demokratie also nicht ersetzen, sondern lediglich ergänzen wollen, vermeiden sie den theoretisch notwendigen Punkt; genau die Frage, die gestellt werden sollte, wenn über die Reformbedürftigkeit der Demokratie diskutiert wird.[11] Auf lange Sicht geht es um die Zukunftstauglichkeit des massenmedialen Charakters der demokratisch-politischen Öffentlichkeit und die Zukunftsfähigkeit der repräsentativen Demokratie.
Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
* Bildnachweis: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:BW_Mandelbrot-Set-Whole_de-called-Apfelmaennchen_detail.jpg. Das Motiv steht unter CC 3.0 Lizenz.